Kamerun - die größte vergessene Flüchtlingskrise der Welt
3. Juni 2025
Wenn irgendwo auf der Welt ein Konflikt ausbricht, dann können Außenstehende in der Regel drei Dinge tun: Regierungen und Institutionen können auf diplomatischer Ebene vermitteln und durch Resolutionen oder Sanktionen politischen Druck ausüben. Hilfsorganisationen können die Not der betroffenen Zivilbevölkerung lindern - meist finanziert von Spenden oder staatlichen Zuwendungen. Und die Medien können durch ihre Berichterstattung den nötigen öffentlichen Druck schaffen.
Der Norwegische Flüchtlingsrat (NRC), die größte humanitäre Organisation des skandinavischen Landes, untersucht Konflikte weltweit systematisch anhand dieser drei Kriterien. Gerade hat der NRC seine aktuelle Rangliste der vernachlässigten Krisen weltweit veröffentlicht. Acht der zehn Krisen spielen sich in Afrika ab. Ganz oben steht diesmal Kamerun, gefolgt von Äthiopien, Mosambik, Burkina Faso, Mali, Uganda, dem Iran, der Demokratischen Republik Kongo, Honduras und Somalia.
"Kamerun ist ein Paradebeispiel globaler Vernachlässigung und hat in allen drei Kriterien besonders schlecht abgeschnitten", sagte NRC-Sprecherin Laila Matar der DW. Das zentralafrikanische Land war auch in den vergangenen Jahren in der Liste vertreten; den unrühmlichen Spitzenplatz hatte es zuletzt 2019 inne.
Worum geht es bei den Krisen in Kamerun?
Der NRC sortiert Kamerun in die niedrigste Kategorie medialer Aufmerksamkeit ("vernachlässigt") ein. Gleichzeitig bekommt der politische Wille zur Konfliktbeilegung 0 von 30 möglichen Punkten, und nur 45 Prozent der benötigten Hilfsgelder werden gewährt. Nach Angaben des NRC sind 1,1 Millionen Kameruner im eigenen Land auf der Flucht, dazu kommen noch einmal 480.000 Flüchtlinge aus anderen Staaten - die meisten von ihnen aus der Zentralafrikanischen Republik.
Kamerun hat zwei Konflikte, die geografisch und politisch weit voneinander entfernt sind. Seit 2017 gibt es im Westen einen regelrechten Bürgerkrieg, dessen Ursachen gut 100 Jahre zurückreichen: Die frühere deutsche Kolonie wurde nach dem Ersten Weltkrieg unter britische und französische Verwaltung gestellt. Bis heute wird in den beiden westlichen Regionen North West und South West vorwiegend Englisch gesprochen. Radikale Kräfte wollen die Loslösung vom größeren, frankophon geprägten Teil erreichen und riefen 2017 eine eigene Republik aus. Immer wieder gibt es Anschläge oder Gefechte mit der Armee, bei denen bereits Tausende Menschen ums Leben kamen.
Doch vor allem der zweite große Konflikt hat sich in jüngerer Zeit verstärkt: Die Tschadsee-Region, zu der auch der äußerste Norden Kameruns gehört, wird von grenzüberschreitend tätigen Islamisten destabilisiert.
Was genau passiert im Norden Kameruns?
Allein im März habe es mehr als zehn Angriffe im nördlichsten Département Logone-et-Chari sowie dem angrenzenden nigerianischen Bundesstaat Borno gegeben, sagte Remadji Hoinathy, im Tschad ansässiger Experte des Instituts für Sicherheitsstudien (ISS). "Dabei wurden Überraschungsangriffe auf Militäreinrichtungen gestartet und Ausrüstung, Waffen und manchmal sogar Fahrzeuge geraubt", sagte Hoinathy Mitte Mai im DW-Podcast Africalink.
In der Region habe sich die nigerianische Terrorgruppe Boko Haram in zwei Lager gespalten, so der Experte weiter. "Einerseits gibt es die ISWAP (Provinz des Islamischen Staats in Westafrika), die die Strategie verfolgen, die Herzen der Menschen zu gewinnen. In eroberten Gebieten setzen sie quasi-staatliche Strukturen auf, manchmal sogar mit Sozialleistungen, hauptsächlich aber nur, indem sie die Gemeinden ausbeuten und illegale Steuern einsammeln." Die zweite Gruppe heißt JAS. Ihre Vorgehensweise beschreibt Hoinathy als "undifferenzierte Gewalt gegen Militär, Behörden, aber auch Zivilisten. Die Menschen vor Ort sitzen in der Falle und sind manchmal gezwungen, für ihr eigenes Überleben mit einer der Gruppen zusammenzuarbeiten, Steuern zu zahlen und zu ihren Zielen beizutragen."
Haoua: Ein Schicksal unter Hunderttausenden
Solche Praktiken tragen entscheidend dazu bei, dass Hunderttausende als Binnenvertriebene durch die Region irren. Nach Angaben des NRC leben nur 30 Prozent von ihnen in formellen Flüchtlingslagern; der Großteil ist unter prekären Bedingungen auf sich alleine gestellt.
Es sind Menschen wie Haoua, die der DW Ende 2024 in der nordkamerunischen Stadt Maroua ihre Geschichte erzählte. Damals lebte die 39-Jährige seit einem Jahr in Maroua. Weil ihr Mann festgenommen und ein Schwiegersohn von Islamisten getötet worden war, war Haoua alleine verantwortlich für acht Kinder und zwei Enkelkinder.
"Die Kinder gehen nicht zur Schule, ich habe kein Geld, um ihre Ausbildung zu bezahlen. Ich weiß nicht, wo mein Mann inhaftiert ist", sagte sie der DW. "Es ist fast vier Tage her, seitdem die Kinder und ich das letzte Mal gegessen haben. Wenn ich auf der Straße bettele, werde ich verjagt." Nur ab und zu verdiene sie etwas Geld, indem sie anderen die Wäsche wasche.
Wie kann die Lage verbessert werden?
Damit sich für die lokale Bevölkerung etwas ändert, müsste die Sicherheitslage verbessert werden. Bereits seit Jahren kooperieren die Länder in der Tschadsee-Region in gemeinsamen Militäreinsätzen gegen die grenzüberschreitend tätigen Islamisten. "Jenseits der militärischen Agenda gibt es auch eine regionale Stabilisierungs-Initiative", sagt ISS-Analyst Hoinathy. "Aber nach mehr als einem Jahrzehnt des Kampfes gegen Boko Haram gibt es gewisse Ermüdungserscheinungen in der regionalen Zusammenarbeit."
Der NRC schreibt in seinem Bericht, die Zukunftsaussichten für Kamerun seien ohne neue politische, humanitäre oder mediale Aufmerksamkeit "noch düsterer". NRC-Sprecherin Laila Matar bemängelt gegenüber der DW, dass Länder wie die USA, Großbritannien, Frankreich und Deutschland ihre Budgets für Entwicklung und humanitäre Hilfe zusammengestrichen hätten, während in Verteidigung investiert wird. "Von den globalen Militärinvestitionen 2024 hätten die Ausgaben von drei bis vier Tagen gereicht, um die gesamte Lücke in der Finanzierung humanitärer Hilfe zu decken", sagt Matar. "Mit politischem Willen wären diese vernachlässigten Krisen lösbar."
Mitarbeit: Josephine Mahachi, Elisabeth Asen