Die exzessive Nachhilfe in Ostasien
3. August 2021Wer einmal beobachten möchte, welchen Stellenwert Bildung in der südkoreanischen Gesellschaft einnimmt, der muss um kurz vor zehn Uhr abends Daechi-dong im Südosten der Hauptstadt Seoul beobachten. Die Gegend, die als "Nachhilfe-Mekka" des Landes gilt, beherbergt in wenigen Straßenzügen Aberhunderte Institute für alle Fächer von Mathe bis Englisch. Und in der Dunkelheit warten die Eltern in ganzen Autokorsos auf ihre Zöglinge.
Ende Juli hat Chinas Staatsführung zum Regulierungsschlag gegen die kommerzielle Nachhilfeindustrie ausgeholt. Sämtliche Firmen müssen sich künftig als gemeinnützig deklarieren, was laut einer Schätzung von Bloomberg bis zu 1,5 Milliarden US-Dollar an Aktienwerten vernichtet hat. Die Intention Pekings ist es, die Bildung des Landes unabhängiger vom Einkommen der Eltern zu gestalten und den finanziellen Druck der Mittelschicht sowie den Leistungsdruck auf die Schülerinnen und Schüler zu verringern.
Kampf gegen die "Nachhilfeindustrie"
Nur wenige Menschen wissen, dass auch Südkorea bereits seit Jahrzehnten versucht, den im Vergleich sogar noch exzessiveren Nachhilfesektor zu regulieren. Laut Angaben des koreanischen Statistikamts von 2019 nahmen knapp drei Viertel aller Schülerinnen und Schüler des Landes außerschulische Nachhilfe in Anspruch. Wie aus OECD-Daten hervorgeht sind die durchschnittlichen Ausgaben für Privatbildung pro Kind in keinem anderen asiatischen Land so hoch wie in dem Land am Han-Fluss.
1980 hat der südkoreanische Präsident Chun Doo-hwan, der letzte autoritäre Machthaber vor den ersten demokratischen Wahlen 1987, der Nachhilfeindustrie im Lande den Kampf angesagt. Als praktisch seine erste Amtshandlung verbot er sämtliche außerschulische Privatstunden. Seine Intention war bereits damals ähnlich wie nun 40 Jahre später von der chinesischen Regierung: Die Bildungschancen sollen auch für sozial schwache Bevölkerungsschichten fairer werden, und die finanziellen Belastungen für die Eltern geringer. Diese waren schließlich mit ein Grund für die geringen Geburtenraten des Landes.
Von der Bevölkerung wurde die Maßnahme zumindest in Teilen willkommen geheißen. Denn die Idee einer egalitären Gesellschaft ist im moralischen Wertesystem Südkoreas fest verankert. Viele Koreaner lehnten die Idee ab, dass sich reiche Bevölkerungsschichten durch teure Nachhilfelehrer eine bessere Bildung für ihre Kinder "erkaufen" können. Auch deswegen wurde die Schuluniformpflicht eingeführt, die Klassenunterschiede hinter gleicher Kleidung verschwinden lassen soll. Kritiker hingegen sahen sich in ihrer Freiheit eingeschränkt, dem Nachwuchs bessere Chancen mit auf dem Weg zu geben.
Knapp zehn Jahre lang wurde das Verbot schließlich aufrechterhalten, ehe die ersten Lockerungen folgten. So durften zunächst Universitätsstudenten als Nachhilfelehrer arbeiten. Zudem lizenzierte die Regierung einige wenige Bildungsinstitute. Doch privat organisierte Nachhilfe verstieß auch weiterhin gegen das Gesetz. Razzien waren in den 1990er Jahren noch üblich, genau wie finanzielle Strafen gegen erwischte Lehrkräfte. Nicht wenige Rucksack-Touristen, die sich illegal als Englischlehrer etwas dazu verdienen wollten, wurden des Landes verwiesen. Einige landeten sogar im Gefängnis.
Schlupflöcher für die Reichen
Doch schlussendlich scheiterte die Strategie der Regierung auf ganzer Linie. Denn die wohlhabenden Schichten Südkoreas fanden immer ausgefallenere Schlupflöcher, wie sie die Gesetze umgehen konnten. "Nichts wird jemals zwischen Koreanern und der Bildung ihrer Kinder stehen", schreibt der mittlerweile in den USA lebende Blogger "T.K." von "Ask a Korean" auf seinem Twitter-Account: "Das Einzige, was das neue Gesetz brachte, war, die Preise von privater Nachhilfe in die Höhe zu treiben". Sein eigener Vater habe ebenfalls davon profitiert: Nach dessen Tagesjob als Oberschullehrer habe er sich durch illegale Nachhilfestunden am Abend sein erstes Eigenheim verdient.
Der US-amerikanische Englischlehrer Casey Lartigue erinnert sich in einem Kommentar in der Washington Post an seine Nachhilfestunden in den 1990er Jahre in Südkorea: "Ich wusste, dass es für mich ein Risiko darstellte, wann immer ich von den Eltern der Schüler bezahlt wurde - in einem Umschlag in bar."
1998 musste sogar der Rektor der Seoul National University, immerhin der renommiertesten Bildungsinstitution des ganzen Landes, von seinem Posten zurücktreten, nachdem er illegale Nachhilfe für seine eigene Tochter organisiert hatte.
Kurz nach der Jahrtausendwende schließlich hob das Verfassungsgericht das Nachhilfeverbot vollständig auf. Es entschied, dass das Verbot "gegen das Grundrecht der Bevölkerung verstößt, seine Kinder zu bilden".
Weitere Reformversuche
Doch das Thema war damit längst noch nicht vom Tisch. Zunächst galten immer noch strenge Regeln: So blieb es weiterhin verboten, "überteuerte Preise" für Nachhilfestunden zu verlangen, auch wenn diese nicht exakt definiert wurden. Vor rund einer Dekade setzte schließlich die konservative Regierung unter Präsident Lee Myung-bak durch, dass private Nachhilfeinstitute maximal bis zehn Uhr am Abend geöffnet sein dürfen, um den Kindern genügend Schlaf zuzusichern.
Auch der amtierende, linksgerichtete Präsident Moon Jae-in ist gegen Eliteschulen und besonders exklusive Nachhilfeinstitute vorgegangen. Einrichtungen, die mehr als umgerechnet 700 Euro pro Monat und Kind verlangen, sollen bereits beim ersten Vergehen geschlossen werden. Nach OECD-Statistiken beläuft sich das durchschnittliche verfügbare Haushaltseinkommen in Südkorea auf umgerechnet 1.600 Euro im Monat.
Stand Dezember 2020 gibt es in Südkorea rund 86.000 Nachhilfeinstitute, davon rund 17 Prozent in der Hauptstadt Seoul. Sie prägen das urbane Stadtbild merklich, etwa durch die omnipräsente Werbung an den Außenfassaden von Gebäuden. Und sie sorgen auch für steigende Immobilienpreise, etwa im Seouler Nobelbezirk "Gangnam". Viele koreanische Eltern wollen nahe den besten Bildungsinstituten wohnen, um ihren Zöglingen gute Chancen zum Erreichen der Elite-Universitäten mit auf dem Weg zu geben. Denn nur die "SKY-Unis", also Seoul National University, Korea University und Yonsei University, gelten als sicherer Aufstieg für ein wohlhabendes Leben.
Allerdings musste Südkorea trotz allem feststellen, dass es mit reinen Verboten die Probleme nicht lösen konnte: Die Bildungsausgaben koreanischer Eltern sind nach wie vor hoch, die Geburtenraten aufgrund der finanziellen Belastungen weiterhin niedrig und etliche junge Kinder leiden bis heute unter dem immensen Leistungsdruck, obwohl die fernöstlichen Schüler bei der weltweiten Schulleistungsuntersuchung PISA deutlich besser abschneiden als die in europäischen Ländern.
Ironischerweise hat nun die Corona-Pandemie im Jahr 2020 zeitweise vollbracht, was sich viele gestresste Schüler nach wie vor wünschen, dass die "Hagwons" zumindest vorübergehend geschlossen bleiben.