Kampf gegen Hunger
1. November 2011Hunger ist grausam. Der Zustand eines hungernden Menschen verschlechtert sich in Etappen. Wenn am Ende das Immunsystem zusammenbricht, tritt langsam der Tod ein, zumeist begleitet von unerträglichen Schmerzen. Fast 25.000 Menschen auf der Erde sterben jeden Tag an Hunger - alle dreieinhalb Sekunden einer. "Tod durch Hunger ist Mord", sagt Jean Ziegler, der ehemalige Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen (UN) für das Recht auf Nahrung.
Beim UN-Millenniumsgipfel im Jahr 2000 beschloss die Generalversammlung, die Zahl der damals rund 800 Millionen Hungernden bis 2015 zu halbieren. Im gleichen Zeitraum sollte auch die Zahl der armen Menschen halbiert werden. Dass vor allem die Armen hungern und oftmals dauerhaft arm bleiben, weil sie an chronischem Hunger leiden, war gerade noch rechtzeitig durch eine Intervention der Welternährungsorganisation (FAO) in die Beschlussvorlage aufgenommen worden.
Mehr Hunger trotz Überschuss
Vier Jahre vor dem großen Bilanzjahr der insgesamt acht Millenniumsziele ist die UN-Abteilung für wirtschaftliche und soziale Angelegenheiten vorsichtig optimistisch, was die Armutslinderung betrifft. Gemessen am Referenzjahr 1990 sei die Armut weltweit um rund 40 Prozent gesunken, heißt es in einem aktuellen Report.
Die Zahl der Hungernden aber ist auf eine Milliarde Menschen angestiegen "und ist damit so hoch wie nie seit dem Zweiten Weltkrieg", sagt Ulrich Post von VENRO, dem Dachverband deutscher Nichtregierungsorganisationen. Dabei haben "wir seit fünf Jahrzehnten eine globale Überschusssituation", ergänzt Michael Windfuhr vom Deutschen Institut für Menschenrechte.
Ländliche Entwicklung vernachlässigt
Die statistischen Erfolge bei der Armutsbekämpfung sind vor allem auf die tiefgreifenden Veränderungen in China zurückzuführen. Im südlichen Asien und in weiten Teilen Afrikas aber stagnieren Armut und Hunger. "Die Vernachlässigung der ländlichen Entwicklung ist einer der Hauptgründe, warum sich daran nichts ändert", glaubt der Menschenrechtsexperte Michael Windfuhr. "Es gibt in den betroffenen Ländern keine Agrarberatung, keine Kredite, keine sicheren Landtitel, kaum Infrastruktur und keine Agrarforschung". Noch in den 1980er Jahren habe die internationale Entwicklungszusammenarbeit etwa 20 Prozent ihrer Mittel für die ländliche Entwicklung ausgegeben, so Windfuhr. Doch danach sei es steil nach unten gegangen: "Bis 2005 auf drei bis vier Prozent, auch bei der Weltbank, bei allen Gebern."
Auch die von Armut und Hunger betroffenen Länder selber investieren zu wenig in die ländliche Entwicklung. "Das hat viel damit zu tun, dass Nahrungsmittel vor allem von Frauen produziert werden, die in vielen Ländern doppelt diskriminiert werden", erklärt Michael Windfuhr vom Deutschen Institut für Menschenrechte. "Besonders arme Bevölkerungsgruppen bekommen in der Regel besonders wenig politische Aufmerksamkeit" - auch im Zeitalter der UN-Millenniumsziele.
Investitionen in den ländlichen Bereich kommen seit geraumer Zeit vor allem aus dem Privatsektor. Seit Beginn der Weltfinanzkrise suchen vermögende Personen und Institutionen nach neuen Anlagemöglichkeiten. Viele investieren in Landflächen, Düngemittel, Saatgut und Agrarfonds. Verspricht der damit initiierte großflächige, industrielle Landbau mehr Erfolg gegen den wachsenden Hunger der wachsenden Weltbevölkerung?
Im Ergebnis mehr Hunger
Menschenrechtsexperte Windfuhr zeigt sich eher besorgt, zumal die große Mehrheit der Bevölkerung in den Entwicklungsländern nach wie vor auf dem Land lebt. "Wenn wir jetzt großflächig Land aufkaufen und Kleinbauern von ihrem Land vertreiben, dann haben wir vielleicht mehr produziert, aber wir werden auch mehr Hunger haben." Investitionen in ländliche Regionen müssen seiner Meinung nach die Lebensumstände der Armen und Hungernden unmittelbar verbessern.
Der VENRO-Vorsitzende Ulrich Post nimmt unterdessen die Politik von IWF und Weltbank ins Visier, die "vielen Entwicklungsländern aufgeschwatzt haben, Nahrungsmittel zu importieren". Internationale Kredite seien in den vergangenen 20 Jahren vor allem in die Förderung von Exportkulturen wie Schnittblumen, Kakao und Kaffee geflossen, während die Agrarüberschüsse der USA und der Europäischen Union als Nahrungsmittel importiert worden seien.
Demotivation und Abhängigkeit
Ein gefährlicher Kreislauf: Der Import von billigen Überschussnahrungsmitteln hat in Afrika und Asien lokale Märkte zerstört. Die finanziellen Anreize, Nahrungsmittel anzubauen, sind weggebrochen, und gerade die ärmeren Bevölkerungsgruppen haben ihre Einkommensquellen verloren. So wächst die Abhängigkeit. Und inzwischen leiden auch breitere Bevölkerungsschichten in den Ländern des Südens unter den steigenden Weltmarktpreisen für Lebensmittel. Die Vorsitzende der deutschen Welthungerhilfe, Bärbel Dieckmann, rechnet vor: Während Haushalte in Deutschland durchschnittlich 13 Prozent ihres Einkommens für Lebensmittel ausgeben, sind es in den Entwicklungsländern inzwischen über 70 Prozent.
Wachsende Umweltprobleme und Klimawandel
Können Plantagen-Ökonomie und industrielle Landwirtschaft überhaupt einen Beitrag im Kampf gegen den Hunger leisten? Viele Experten verneinen das inzwischen. Sie fürchten hingegen neue, noch größere Probleme: Monokulturen und Düngemittel vernichten die Artenvielfalt, laugen die Böden aus und machen sie am Ende bretthart. "Der Boden ist die am meisten vernachlässigte natürliche Ressource überhaupt", sagt Joachim von Braun, Direktor am Zentrum für Entwicklungsforschung der Universität Bonn. Der Klimawandel verschärft die Situation: Wetterextreme, wie lange anhaltende Dürren oder riesige Überschwemmungen, vernichten Ernten und spülen fruchtbaren Boden weg.
Ein wachsender Anteil weltweiter Ernten dient heute nicht mehr der Nahrungsmittelproduktion. Stattdessen wandern Agrarrohstoffe wie Mais und Zuckerrohr in die Produktion von Biotreibstoff. Die Industrieländer fördern diese Strategie, um weniger abhängig von den fossilen Treibstoffen zu sein. Doch die Produktion von Biosprit frisst riesige, wertvolle Anbau-Flächen. "Es ist ein regelrechter Wettbewerb zwischen Nahrung und Treibstoff entstanden", meint der stellvertretende Direktor des Weltagrarberichts, Hans Herren.
Eine miserable Energiebilanz
Die aktuelle Organisation der Weltwirtschaft verhindert, dass alle Menschen genug zu essen haben. Der globalisierte Welthandel habe inzwischen "aberwitzige Produktionszyklen", klagt Menschenrechtler Michael Windfuhr: "Futtermittel, die in Lateinamerika produziert werden, gehen nach Europa, weil der Transport mit fossilen Brennstoffen so billig ist."
In Deutschland wandere das Futtermittel dann in die Futtertröge riesiger Schweineställe. "Die Gülle der Schweinemastbetriebe verschmutzt das Grundwasser und befördert viel zu viel Stickstoff in den Boden." Am Ende werde das Schweinefleisch dann billig nach China oder Südkorea transportiert. "Das ist eine miserable Energiebilanz, wenn das Schweinesteak dort auf dem Teller liegt", klagt der stellvertretende Direktor des Deutschen Instituts für Menschenrechte.
Menschenrechte in den Mittelpunkt
Ein Leben in Würde heißt vor allem: nicht hungern zu müssen. Doch vom Erreichen des Millenniumsziels "Halbierung des Hungers" ist die Welt weit entfernt. Besonders für die Entwicklungsländer, befürchten Experten, werden die Lebensmittelpreise weiter hoch und für die Armen unerschwinglich bleiben. "Mit der heutigen industriellen Denkweise können wir die Probleme nicht mehr lösen", ist sich Agrarexperte Hans Herren sicher.
Staatliche, aber auch private Akteure stehen angesichts geltender Menschenrechtskonventionen in der Pflicht, mehr Verantwortung für die Lösung der Probleme zu übernehmen. Menschenrechtsexperte Michael Windfuhr fordert deshalb eine gesellschaftliche und politische Debatte über die Frage: "Welche Vorgaben müssen wir einer globalen Agrarproduktion machen, damit wir langfristig neun Milliarden Menschen ernähren können?"
Autorin: Ulrike Mast-Kirschning
Redaktion: Sandra Petersmann