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Politik

LGBTQ in der ukrainischen Armee

27. Juni 2021

Sie sind Patrioten ihres Landes und verteidigten es an vorderster Front im Donbass: Militärs, die der LGBTQ-Gemeinschaft angehören. Doch sie müssen in der Ukraine auch noch für eigene Rechte kämpfen. Eine DW-Reportage.

LGBT in ukrainischer Armee | Serhij Afanasjew, Abzeichen
LGBTQ-Abzeichen ukrainischer MilitärsBild: privat

Die Stille im improvisierten Kino wird plötzlich durch das Geräusch einer zerborstenen Fensterscheibe unterbrochen. In den Raum fliegt ein brennender Feuerwerkskörper. Rechtsradikale, die im Zentrum von Kiew die Vorführung eines Films über LGBTQ-Menschen "belagern", gehen in die Offensive. Zum Einsatz kommen Tränengas und Pyrotechnik. Einer der Kinogäste springt auf die Fensterbank und wirft die Rakete wieder auf die Straße. Die maskierten Männer rennen daraufhin erschrocken davon.

Der Name des mutigen Mannes ist Viktor Pylypenko. Er war Angehöriger der Anti-Terror-Operation der ukrainischen Armee im Donbass und ist Gründer der ukrainischen LGBTQ-Vereinigung für Gleichberechtigung. Der schlanke 34-jährige Veteran mit einem Hoodie und Ohrringen sieht eher wie ein großstädtischer Hipster aus. Doch der Eindruck trügt. Von 2014 bis 2016 war er als Freiwilliger des Bataillons "Donbass" während der heftigen Kämpfe in der Ostukraine im Einsatz. Als ausgebildeter Übersetzer für Englisch und Französisch erhielt er an der Front den Spitznamen "Franzose".

"Coming-out ein Schritt ins Ungewisse"

Im Sommer 2018 sprach Pylypenko als erster ukrainischer Soldat öffentlich über seine Homosexualität. "Natürlich war es unheimlich, wie ein Schritt ins Ungewisse", erinnert er sich. Zwei Jahre lang an der Front verheimlichte Viktor vor seinen Kameraden, mit denen er im Schützengraben lag, dass er auf Männer steht.

Viktor Pylypenko verheimlichte lange seine HomosexualitätBild: Mykola Berdnyk/DW

"Das war ein ständiges Versteckspiel, ich habe mit Frauen geschlafen, nur damit niemand denkt, ich sei schwul", erinnert er sich. Seine Kollegen hätten ihre Frauen und Kinder manchmal in die Kaserne mitbringen und sie allen vorstellen können. "Für Schwule und Lesben ist so etwas leider unmöglich und das muss sich ändern", sagt Pylypenko.

Er fühlte sich durch sein Coming-Out darin bestärkt, auf Dutzende von Schwulen, Lesben und Transgender-Personen zuzugehen, die beim Militär sind oder in Freiwilligen-Bataillonen waren. 2019 nahmen etwa 30 von ihnen erstmals mit einer eigenen Gruppe am "Marsch für Gleichberechtigung" in Kiew teil. Heute hat die Gruppe "Ukrainische LGBTQ-Militärs für gleiche Rechte" über 100 Mitglieder, und es werden immer mehr, sagt Pylypenko stolz: "In manchen Einheiten wird in Rauchpausen über die LGBTQ-Militärs gesprochen. Danach googelt jemand unsere Gruppe und nimmt mit uns Kontakt auf."

Reaktionen: Von Unterstützung bis hin zu Übergriffen

Einer davon ist der 23-jährige Fernspäher Serhij Afanasjew. Er hat sich erst vor kurzem in sozialen Netzwerken geoutet. Ermuntert wurde er dazu von seinen Kameraden aus der Gruppe der LGBTQ-Militärs. Serhij sagt, er sei nun erleichtert, kein Doppelleben mehr führen zu müssen. Die anderen Militärangehörigen an der Front hätte gelassen reagiert: "Ich habe einen guten Kommandeur, er sagte, es sei mein Leben und er habe kein Recht, sich einzumischen. Ich würde gut dienen, daher sei alles ist in Ordnung."

Serhij Afanasjew führt kein Doppelleben mehrBild: privat

Anders als Serhij hat sich die Berufssoldatin einer anderen Einheit bei ihren Kollegen noch nicht geoutet. Beim Gespräch mit der DW will sie anonym bleiben. "Dass ich bisexuell bin, wissen nur ganz wenige, denen ich stark vertraue. In der Gesellschaft ist leider immer noch diverser Aberglaube verbreitet. Aber bald will ich mein Coming-out wagen und werde dann wohl meine Freundesliste aufräumen müssen", sagt sie.

Die Reaktion von Kollegen auf ein Coming-out hänge sehr vom Team und dem Kommandeur ab, sagt Pylypenko. Er selbst habe verbale Belästigungen in sozialen Netzwerken erfahren. Doch die meisten Kameraden hätten ihn unterstützt. "Insbesondere diejenigen, die Seite an Seite mit mir gegen den Feind gekämpft haben, mit denen ich Verwundete gerettet habe", erinnert er sich. Doch 2019, bei einer Gedenkveranstaltung an die Toten der Schlacht von Ilowajsk, wurde Pylypenko von einem ehemaligen Kollegen angegriffen. "Ich trug blaue Flecken am Rücken und im Gesicht davon. Ich habe mich nicht gewehrt, sondern versucht, ihn mit Worten zu beruhigen", sagt der Veteran.

Kampferfahrung für LGBTQ-Aktivisten hilfreich

Wie andere LGBTQ-Aktivisten fühlen sich auch Militärs nach einem Coming-out auf den Straßen Kiews nicht ganz sicher. Obwohl es der Polizei seit dem Angriff von Rechtsradikalen auf den "Marsch für Gleichberechtigung" im Jahr 2015, bei dem zehn Teilnehmer verletzt wurden, meist gelingt, Gewalt bei LGBTQ-Aktionen zu verhindern, veranstalten Homophobe oft sogenannte "Safaris". "In kleinen Gruppen jagen sie dann LGBTQ-Aktivisten in der Stadt, wegen ihrer gefärbten Haare oder des Regenbogen-Symbols", so Viktor.

Die Gewalt erwidern die LGBTQ-Militärs aber nicht mit Gewalt. "Es gab Momente, wo mir Leute sagten, ich solle doch zurückzuschlagen. Aber ich habe sie gestoppt. Denn wenn man mit physischer Gewalt reagiert, legitimiert man Gewalt gegen einen selbst", meint Pylypenko, dem seine Kampferfahrung und Menschenrechtsarbeit heute eine Hilfe ist und eine gewisse Gelassenheit verleiht. Er findet, die LGBT-Community sollte Gewalt entschlossen entgegentreten, aber nicht mit Fäusten und definitiv nicht mit Waffen.

Einsatz für das Recht auf Lebenspartnerschaft

Die wichtigste "Waffe" der LGBTQ-Militärs ist Öffentlichkeitsarbeit. Sie setzen sich unter anderem mit anderen LGBTQ-Organisationen für das Recht auf eine Lebenspartnerschaft ein, die es als Alternative zur Eheschließung schon in vielen Ländern gibt. In der Ukraine wird sie Schwulen und Lesben jedoch immer noch verwehrt.

Pylypenko findet, dass eine Legalisierung von Lebenspartnerschaften für diejenigen besonders wichtig ist, die täglich an der Front im Donbass ihr Leben riskieren, aber auch für Veteranen, die im Falle einer Eskalation des Konflikts wieder in die Armee einberufen werden können. Er bedauert, dass die ukrainischen Gesetze Lebenspartnern im Unterschied zu Ehepartnern und Kindern von getöteten oder verwundeten Soldaten keine Präferenzen gewähren. "Wenn ein schwuler Soldat oder eine lesbische Soldatin stirbt, bekommen ihre Familien und Kinder praktisch keine Hilfen", so der Aktivist.

Aktion in Kiew gegen die Diskriminierung von Angehörigen der LGBTQ-Gemeinschaft in der ArmeeBild: Mykola Berdnyk/DW

Derzeit gibt es in der Ukraine mehrere Gesetzentwürfe zur Lebenspartnerschaft. Bisher wurde jedoch keiner davon dem Parlament vorgelegt. "Der Krieg dauert schon acht Jahre und die Risiken für uns sind die gleichen geblieben. Gebt uns Gleichberechtigung: Wir haben dem ukrainischen Volk die Treue geschworen. Wir haben für unser Land Blut vergossen. Wir haben es verdient, gleichberechtigt zu sein", betont Pylypenko.

Unterdessen berichten Vertreter von LGBTQ-Organisationen, mit denen die DW gesprochen hat, dass sich die Einstellung der Ukrainer zur LGBTQ-Gemeinschaft dank der Öffentlichkeitsarbeit der LGBTQ-Militärs bereits ändert. Schließlich werden das Militär und Veteranen in der Ukraine als Verteidiger wahrgenommen, und die Armee genießt unter den staatlichen Institutionen laut Meinungsumfragen das größte Vertrauen.

Vorwurf der Zusammenarbeit mit dem Kreml

Im März dieses Jahres lud die Gruppe der LGBTQ-Militärs Vertreter der Gemeinschaft ein, sich für eine neue Teileinheit in den ukrainischen Streitkräften zu melden. Die Initiative, psychologisch angenehme Bedingungen für den Dienst von Schwulen und Lesben in der Armee zu schaffen, ging von einem Kommandeur aus, der selbst der Gruppe der LGBTQ-Militärs angehört. Mit der Führung war das nicht abgestimmt und der Name der Teileinheit wird noch geheim gehalten. "Es können Homophobe im Kommando sitzen, die eine solche Teileinheit einfach nicht zulassen werden", befürchtet Pylypenko.

"Marsch für Gleichberechtigung" in Kiew im Juni 2019Bild: Getty Images/B. Hoffman

Ihm zufolge verzögert sich die Rekrutierung für die Teileinheit etwas. Erstens müssten die Angehörigen körperlich und geistig fit sein. Nicht jeder sei den Aufgaben jener Teileinheit gewachsen. Zweitens bereite die Bürokratie Probleme beim Wechsel von einer Einheit in eine andere. Es komme hinzu, dass es sich einige Militärs wieder anders überlegt hätten, aufgrund von Angriffen seitens Rechtsradikaler, die der LGBTQ-Gemeinschaft vorwerfen, mit dem Kreml zu paktieren, um die ukrainische Armee zu diskreditieren.

In Wirklichkeit sei die Aufgabe der LGBTQ-Militärs genau das Gegenteil, betont Pylypenko: "Eines unserer Ziele ist, die Mythen der russischen Propaganda zu entlarven, denen zufolge in der Ukraine eine 'Neonazi-Junta' herrsche. Aber wir wollen zeigen, dass von Neonazis gar keine Rede sein kann, wenn eine LGBTQ-freundliche Teileinheit aufgestellt wird und es Veteranen und Militärs gibt, die keine Angst vor einem Coming-out haben." Der Veteran fügt hinzu: "Warum sollen wir auf Russland schauen? Wir waren Teil von dessen Imperium. Wieso sollen wir uns anhören, wie die ukrainischen Streitkräfte, die LGBTQ-Gemeinschaft und die Ukraine insgesamt besudelt werden? Wir müssen uns hin zur freien Welt, nach Europa, hin zu demokratischen Werten bewegen."

Adaption aus dem Ukrainischen: Markian Ostaptschuk

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