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Politik

Wie Hashtags Politik beeinflussen

Jefferson Chase
9. September 2018

Der Konflikt über die Flüchtlingspolitik wird auf der Straße ausgetragen - und unter Hashtags im Netz. Rechtsextreme Gruppen dominierten die Debatte über den Mord in Kandel, in Chemnitz liefen die Diskussionen anders.

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Bild: picture-alliance/dpa/J. Grosse

Zwei Städte, zwei tragische Todesfälle, in die Asylsuchende verwickelt waren. Und zwei grundverschiedene Antworten darauf in den Sozialen Medien. Zumindest von den etablierten politischen Parteien in Deutschland. Am 3. September, einem Montag, äußerte sich so gut wie jeder Politiker mit größerer Wichtigkeit in Deutschland über den mutmaßlichen Mord in Chemnitz. Und über das große Konzert, auf dem dagegen protestiert wurde, dass dieses Verbrechen von Rechtsextremen instrumentalisiert wurde.

Kandel: Kein Ton von der SPD

Zeitgleich wurde ein Asylbewerber zu achteinhalb Jahren Gefängnis verurteilt, der in Kandel in Rheinland-Pfalz ein 15 Jahre altes Mädchen ermordet hatte. Die Medienforscher Wolfgang und Mathias König von der Universität in Landau in der Nähe von Kandel werteten an diesem Tag Tweets führender Politiker aus. Und fanden heraus: Vertreter der rechts-populistischen "Alternative für Deutschland " (AfD) beeilten sich, ihre Wut über das Geschehen in Kandel zu äußern, führende Mitglieder der in Rheinland-Pfalz regierenden  Sozialdemokraten blieben in den Sozialen Medien still. "Der Kampf um die Deutungshoheit über das Thema Kandel wurde am Tag der Urteilsverkündung der AfD überlassen", sagt Wolfgang König der DW. "So hat beispielsweise die Spitze der SPD in Rheinland-Pfalz, aber auch im Bund, im besagten Zeitraum zu Kandel und dem Urteil nichts getwittert."

#Kandel: Ein Segen für die Rechtspopulisten

Der Politik-Berater Martin Fuchs, spezialisiert auf die Sozialen Medien, sagt dazu, dass der Hashtag #Kandel eine Art Segen für die Rechtsextremen ist, weil sie es schaffen, damit ein außergewöhnliches Einzelereignis auf eine nationale Ebene zu heben. Und auch er findet, das Fehlen jeder Antwort darauf von Seiten der SPD könnte ein Fehler gewesen sein. So sagt Fuchs: "Wenn ich schon sehe, wie viel die AfD unter dem Hashtag #Kandel gepostet hat, dann hätte ich den gleichen Hashtag genutzt, um meine eigene Sicht auf die Dinge klar zu machen. Und so der schweigenden Mehrheit zu zeigen, dass es auch andere Stimmen gibt."

SPD: Chemnitz war uns wichtiger

Also warum hat die SPD das nicht getan, warum hat sie nicht geantwortet? War das Teil einer grundlegenden Strategie oder hatte das mit den speziellen Meldungen zu tun, die aus Kandel kamen? Der SPD-Generalsekretär in Rheinland-Pfalz, Daniel Stich, weist den Vorwurf zurück, dass seine Partei im entscheidenden Moment der Urteilsverkündung versagt habe. Er stellt stattdessen heraus: Die Urteilsverkündung sei exakt zu dem Zeitpunkt erfolgt, als die Aufmerksamkeit gerade auf Chemnitz lag, fünfhundert Kilometer östlich. Und das sei der Grund, warum er und andere führende Sozialdemokraten eben über Chemnitz getwittert hätten und nicht über das Ereignis vor ihrer eigenen Haustür.

#Kandel und #Chemnitz: Ganz unterschiedliches Publikum

Nach dem von rund 65 000 Menschen besuchten "Konzert gegen Rechts" in Chemnitz wurden die Hashtags #Chemnitz und #wirsindmehr (das Motto des Konzerts) in zehntausenden von Tweets in ganz Deutschland benutzt. Der Grund, warum der Hashtag #Chemnitz den Hashtag #Kandel an den Rand drängte, könnte in der Natur des Mediums selbst liegen. "Wenn wir den Hashtag #chemnitz  sehen, dann äußern sich dort durchaus auch die demokratischen Kräfte und bieten der AfD Paroli", sagt Mathias König. "Allerdings wird in der Tendenz unter diesem Hashtag der Rechtsstaat massiv kritisiert. Und zwar von beiden politischen Lagern. Linke Stimmen sagen: Der Rechtsstaat ist zu lasch gegenüber Nazis und anderen. Und Rechts sagt: Der  Rechtsstaat ist zu lasch gegenüber Flüchtlingen. Problematisch ist letztlich, dass bei Twitter polarisierend immer der Rechtsstaat Schaden nimmt, und wenn wie in Kandel ein Urteil gefallen ist, äußern sich im Grunde nur die Kritiker."

3.9.2018 in Chemnitz: 65 000 Menschen besuchen das Konzert gegen Rechts unter dem Motto #wirsindmehr.Bild: picture-alliance/dpa/S. Willnow

Twitter ist grundsätzlich eher negativ

Fuchs stimmt zu, dass die Sozialen Medien und speziell Twitter generell Medien sind, die dramatisch zu negativen Sichtweisen neigen. Die Menschen äußern sich dort eher über Dinge, die sie verabscheuen, als über Dinge, die sie mögen. Und das begünstigt dann die negativste deutsche Partei, die AfD.

AfD: Die digitale Partei

Und die rechtsextreme AfD hat noch einen anderen Vorteil: Erst vor fünf Jahren gegründet, ist die Partei im Kern eine digitale Partei, deren Mitglieder sich zunächst auf Plattformen wie Facebook kennen lernten. "Handwerklich ist das alles sehr gut gemacht, was die AfD tut, zumindest für ihre Zielgruppe", sagt Fuchs. "Die AfD hat es geschafft, in jedem kleinen Ortsverband eine Facebook-Seite aufzubauen. Das haben die anderen Parteien nicht, es gibt nicht mal Anstrengungen, das zu tun." Führende AfD-Politiker wie die Fraktionschefin Alice Weidel, aber auch weniger wichtige, sind auffallend emsige Nutzer auf Twitter, während weder die SPD-Vorsitzende Andrea Nahles noch die Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz, Malu Dreyer, überhaupt Twitter-Accounts haben.

Das Landgericht von Landau in Rheinland-Pfalz am Tag des Urteils gegen den Mörder von Kandel Bild: DW/R. Staudenmaier

SPD: Malu Dreyer hat bei Facebook die größte Reichweite

Während also der Emporkömmling AfD die SPD in einigen Umfragen schon überflügelt, wächst die Einschätzung, dass die SPD und die anderen etablierten Parteien dabei sind, den digitalen Kampf zu verlieren. Aber Stich warnt davor, die Bedeutung von Twitter zu überschätzen. Und stellt klar: Die SPD sieht ihren Fokus in den Sozialen Medien woanders: " Malu Dreyer hat in Rheinland-Pfalz von allen Politikern die größte Reichweite bei Facebook. Sie ist auch die erste Ministerpräsidentin mit einem Profil bei Instagram. Wenn wir über digitale Kommunikation reden, müssen wir alles im Blick behalten und fragen, wie erreiche ich die Leute im Ganzen", sagt Stich der DW.

SPD: Wir sind sehr wohl kampagnenfähig

Stich weiß sehr wohl um die Erfolge der AfD bei der Mobilisierung von Unterstützern. Aber er glaubt auch, dass die Auftritte der AfD in den Sozialen Medien voll von Fälschungen diverser Follower sind. Und er glaubt auch, wenn die SPD sich der Sache mal wirklich annehmen würde, könnte sie durchaus bei den Sozialen Medien mithalten und dort die Agenda bestimmen. "Es ist uns etwas Gutes gelungen", sagt Stich. "Der Hashtag #wirsindmehr läuft. Auch #afdwegbassen bei der großen Demo in Berlin hat funktioniert. Der Eindruck trügt ein bisschen, dass nur die anderen aktiv sind. Ich glaube, wir haben gezeigt, dass auch wir kampagnenfähig sind."

#Chemnitz: Ein Erfolg für die AfD-Gegner

Im Krieg um die im Netz dominierende Erzählung war Chemnitz eine Schlacht, die von den etablierten Parteien und den Gegnern der AfD und anderer rechtsextremer Gruppen gewonnen wurde. Die Bilder zehntausender Konzertbesucher, die sich gegen die AfD wandten, waren stärker als die tausender rechtsextremer Unterstützern auf dem Trauermarch für das Mord-Opfer von Chemnitz zwei Tage zuvor, zu dem auch die AfD aufgerufen hatte. Und das lag sicher auch an dem "wirsindmehr-Hashtag, den sich die Bands ausgedacht hatten, die bei dem Konzert auftraten. "Der Hashtag  #wirsindmehr hatte keine parteipolitische Färbung, auch keine zu starke linksgerichtete Färbung. Viele der Demonstranten wollen nicht in die linke Ecke gesteckt werden. Das sind einfach Demokraten", so Politikberater Fuchs.

Die Sozialen Medien kann niemand mehr ignorieren

Zusammenfassend lässt sich sagen: Hashtags sind nicht dafür da, dass Politiker sich profilieren können. Und die wirklich emotionalen Tweets kommen sowieso weniger von Politikern oder politischen Vermarktern. Aber Politiker überführen digitale Trends schließlich in praktische Politik, in Gesetze etwa. Während sie selbst hochgradig abhängig davon sind, welcher Wind ihnen aus dem Netz entgegen bläst. Ein Fazit aus Kandel und Chemnitz lautet: Niemand kann es sich noch leisten, die Bedeutung der Sozialen Medien zu ignorieren.

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