Lässt sich das zerstörte Kulturerbe Syriens wieder aufbauen?
19. Dezember 2024Der Schock war groß, als Bilder der zerstörten 2.000 Jahre alten Tempel und Türme der antiken Stadt Palmyra um die Welt gingen. 2015 war das. Milizen des Islamischen Staats hielten einen Teil Syriens besetzt und sprengten UNESCO-Welterbestätten, neben Palmyra auch die antike Stadt Aleppo und ihre Zitadelle, eine der ältesten Burgen der Welt.
Nach dem Sturz Baschar Al-Assads und dem Ende der mehr als 50 Jahre währenden Diktatur der Assad-Dynastie keimt nun die Hoffnung auf, dass das kulturelle Gedächtnis Syriens geschützt oder sogar in Teilen wiederhergestellt werden kann.
So hat die in Deutschland ansässige Nichtregierungsorganisation "World Heritage Watch" die von Haiat Tahrir al-Scham (HTS) geführte Übergangsregierung aufgefordert, dafür zu sorgen, dass das "kulturelle Erbe aller religiösen und ethnischen Gruppen und aller Epochen der langen Geschichte Syriens geschützt und erhalten wird".
Doch wie soll das gehen, wenn doch das politische Schicksal Syriens noch völlig unklar ist?
Buchführung über verlorene Altertümer
Archäologen in Syrien und Experten im Ausland tun sich schwer, das Ausmaß der Schäden am kulturellen Erbe zu erklären. Zu lange haben die bewaffneten Konflikte angedauert.
Immerhin: Initiativen wie das in Berlin ansässige Syrian Heritage Archive Project , das zum Teil von syrischen Flüchtlingen gegründet wurde, haben Hunderttausende von Fotos, Filmen und Berichten gesammelt - und digitalisiert. Sie dokumentieren Syriens Kultur- und Naturschätze vor und nach dem Krieg, was für einen Wiederaufbau nützlich werden könnte. Voraussetzung ist allerdings, dass Frieden einkehrt. Derzeit, inmitten des aktuellen Chaos, ist die Lage noch unübersichtlich - und somit weitgehend unklar, in welchem Zustand sich die Kulturgüter befinden.
Wenig dokumentiert sei zudem, in welchem Ausmaß Antiquitäten aus syrischen Museen gestohlen wurden, sagt die libanesisch-syrische Flüchtlings- und Menschenrechtsforscherin Sherine Al Shallah von der University of New South Wales in Australien. Auch das "immaterielle Kulturerbe" in Syrien habe großen Schaden erlitten, das sei aber noch schwieriger zu quantifizieren. Unter immateriellem Kulturerbe versteht man etwa mündliche Traditionen, darstellende Künste wie Tanz, Theater und Musik, zudem soziale Traditionen wie Rituale und Feste oder auch traditionelle Handwerkskunst. Als ein Beispiel nennt Sherine Al Shallah das Steinmetzhandwerk, das wegen der vielen vertriebenen Syrer verloren zu gehen droht.
Durch die Auswertung von Satellitenbildern lassen sich Art und Ausmaß der Schäden ungefähr einschätzen, sagt Nour Munawar im DW-Gespräch. Dies gelte auch für Plünderungen, illegale Ausgrabungen und den Handel mit Kulturgütern, so Munawar. Der Kulturerbeforscher und Syrien-Experte ist an der Universität Amsterdam und für die Weltkulturorganisation UNESCO tätig.
Klar ist aber: "Dauer und Komplexität des Konfliktes machen eine vollständige Erfassung der Verluste des syrischen Kulturerbes so gut wie unmöglich", sagt Lucas Lixinski, Professor für globales und öffentliches Recht an der Universität von New South Wales. "Die Informationen sind immer lückenhaft. Oft hängen sie davon ab, dass Menschen ihr Leben riskieren, wenn sie an die Kulturstätten gelangen wollen", sagte er. Und auch darauf verweist der Experte: Es gab zahllose illegale Ausgrabungen von Altertümern, bei denen Fundstätten ohne jegliche Dokumentation geöffnet wurden. Über den Verkauf auf dem internationalen Schwarzmarkt hätte diese den Krieg mitfinanziert.
"Das Land scheint nun auf dem Weg zu größerer Stabilität zu sein", sagt Lixinski. Die Suche nach geplünderten Artefakten könne allerdings "noch Jahre" dauern.
Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft
Der Prozess der Restaurierung müsse maßgeblich von der syrischen Zivilgesellschaft mitgetragen werden - "im Einklang mit ihrer jeweiligen Identität", so Flüchtlingsforscherin Sherine Al Shallah. "Kulturelles Erbe ist der Beitrag bestimmter Völker zur Welt, und diese Völker sind am besten geeignet, es zu pflegen. Und es ist ihr Recht, darauf zuzugreifen, es zu genießen und es an künftige Generationen weiterzugeben", so Sherine Al Shallah.
Diese Identität habe sich aus unzähligen Zivilisationen herausgebildet, von der 2000 Jahre alten griechisch-römischen Architektur von Palmyra über die weltweit früheste identifizierte christliche Kultstätte in Dura-Europos bis hin zu einzigartigen Zitadellen und Moscheen aus dem 13. Jahrhundert und den Karawansereien aus dem 18. Jahrhundert. "Es ist Sache des syrischen Volkes zu entscheiden, wer es sein will", sagte Lucas Lixinski. "Die Entscheidung darüber, wer Syrien sein will, wird den syrischen Behörden ein besseres Gespür dafür geben, welches Erbe erhalten werden soll, welches restauriert werden muss und welches man aufgeben kann."
Noch gebe es im Land allerdings so gut wie keine zivilgesellschaftlichen Organisationen, die sich um das Kulturerbe kümmern, sagt Syrien-Experte Nour Munawar. Vorerst müssten ausländische Nichtregierungsorganisationen und Kulturerbe-Experten etwa der UNESCO bei Dokumentation, Erhalt und der Wiederaufbau helfen.
"Stätten in Syrien wie das Saidnaja-Gefängnis sollten unter Schutz gestellt werden", verlangt Sherine Al Shallah. Das Gefängnis war für seine Folterzellen berüchtigt und galt als "menschliches Schlachthaus". Sein Erhalt könne zur Dokumentation der Verbrechen dienen und werde ein Mahnmal gegen Menschenrechtsverstöße sein.
Adaption aus dem Englischen: Stefan Dege