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Politik

"Wir sind bloß Kanonenfutter"

24. September 2022

Nach dem Ausrufen der sogenannten Teilmobilmachung versuchen Tausende Russen das Land zu verlassen. Aus Riga Juri Rescheto.

Russland | Teilmobilmachung in Russland
Nach der Teilmobilmachung lange Schlangen an den Grenzübergängen - wie hier an der Grenze zu KasachstanBild: DW

Fliehen, solange es geht. Aus Angst davor, an die Front abgezogen zu werden, versuchen Tausende Russen aus ihrem Land zu fliehen. Zwar sollen laut Verteidigungsministerium offiziell nur 300.000 Männer einberufen werden, die maximal 55 Jahre alt sind und bereits gedient haben. Russische Medien berichten aber von Fällen, bei denen ältere Männer und Männer ohne Armeeerfahrung ebenfalls einen Einberufungsbescheid bekommen hätten. Die regierungskritische "Nowaja Gaseta Europa" will sogar herausgefunden haben, dass die planmäßige Zahl der Einberufungen deutlich höher liege: bei bis zu einer Million. Seitdem kocht die Gerüchteküche. Der Kreml dementiert. Die Menschen sind verunsichert.

"Angst habe ich nicht wirklich. Wenn die wollen, kriegen die sowieso jeden", stellt resigniert der 28-jähige Lagerarbeiter aus Tscherepowez Michail Bajankin gegenüber der DW fest. Er werde dennoch niemals eine Waffe in die Hand nehmen, weil ihm die Ziele der sogenannten militärischen Spezialoperation nicht klar sind: "Die reden von irgendeiner Pflicht. Was denn für eine Pflicht? Wenn unser Land angegriffen worden wäre, dann ja, hier aber greifen wir selbst ein Nachbarland an."

Autoschlangen aus Russland an der Grenzstation Vaalimaa im Südosten FinnlandsBild: Oliver Morin/AFP

So wie Michail denken viele Männer in Russland. Manche setzen sich ins Auto oder Flugzeug und reisen ab. Wer kein Visum hat, fährt nach Georgien, Kasachstan oder in die Mongolei. Von kilometerlangen Schlangen an den Grenzübergängen zu diesen Ländern berichten die Augenzeugen in den sozialen Medien. Wer Geld hat, fliegt in die Vereinigten Arabischen Emirate oder in die Türkei. Auch Serbien und Finnland gehören zu beliebten Ausreisezielen.

Russland schweren Herzens verlassen

Ein 34-jähriger Ingenieur aus Krasnodar, der seinen Namen lieber nicht nennen möchte, kam gerade in der georgischen Hauptstadt Tiflis an. Er war bereits Vertragssoldat und passt genau zu den Kriterien der so genannten Teilmobilisierung. Im Gespräch mit der Deutschen Welle räumt er ein, schon länger Russland verlassen zu wollen. Die Nachricht über die Teilmobilmachung habe ihn in seinem Wunsch nur verstärkt: "Ich habe mein Land nicht für immer verlassen. Ich liebe Russland und komme irgendwann ganz sicher wieder."

Auch der 28-jährige Internethändler Dennis aus Rostow am Don wollte eigentlich Russland nie verlassen. Doch schon am 24. Februar, als der Krieg ausbrach sei ihm klar gewesen, dass nichts mehr stimme, gesteht er der DW: "Wir haben alle begriffen, dass das Ganze nichts Gutes bringt, trotz unserem Glauben an alles Gute bis zum Schluss."

Viele packen schnell Tasche und Reisedokumente, um nicht einberufen zu werdenBild: Sergei Bobylev/TASS/dpa/picture alliance

Der 43-jährige Waleri Klepkin lebte bis vor zwei Tagen noch im russischen Norden. Der studierte Ingenieur diente in den Truppen des Innenministeriums. Als der Krieg begann, erzählt Waleri der DW, habe er mehrere Anfragen aus dem Militärrevier erhalten, er sei aber nicht hingegangen: "Ich bin Reserve-Offizier des ersten Grades. Ich wollte nicht lange warten, um vor der Wahl zu stehen: Gefängnisstrafe oder Mörder." Als die Nachricht von der Mobilmachung kam, packte Waleri seine Tasche und fuhr sofort nach Finnland, wo er viele Freunde hat. Der junge Mann hat schon früher Finnisch gelernt, sein Großvater lebte dort. Waleri ist glücklich, dass die Ausreise nach Finnland geklappt hat.

Keine Einreise für russische Kriegsverweigerer

Der Fluchtweg in die baltischen Staaten ist dagegen zu. Der lettische Außenminister Edgars Rinkēvičs verweigerte bereits kurz nach der Ankündigung der Teilmobilmachung in Russland die Einreise für russische Kriegsverweigerer und erklärte seine Haltung mit der Bedrohung der nationalen Sicherheit. Die estnische Regierungschefin Kaja Kallas will ebenfalls keine fliehenden Russen hereinlassen. Sie forderte wiederholt die oppositionellen Russen auf, für einen Regimewеchsel im eigenen Land zu sorgen. Auch Litauen will vom automatischen Asyl für russische Kriegsverweigerer nichts wissen. Die gleiche ablehnende Haltung vertritt auch die Regierung in Tschechien. Die finnische Regierung erwägt, den Transit für russische Bürger ganz einzustellen.

Kein Vertrauen in die russische Regierung und Präsident Wladimir PutinBild: Russian Presidential Press and Information Office/Russian Look/picture alliance

Der russische Oppositionspolitiker Lew Schlossberg kritisiert solche Entscheidungen. Im Interview mit der Deutschen Welle wirft er den Regierungen der osteuropäischen Staaten vor, dem Druck der rechtspopulistischen Kräfte nachzugeben und einen neuen Eisernen Vorhang aufzubauen: "Früher oder später aber werden wir alle wieder im Frieden leben. Und je größer die Kluft zwischen uns jetzt wird, desto schwieriger wird es für alle wieder zusammen zu kommen."

Doch der Weg dahin sei lang, glaubt der 28-jährige Michail Bajankin und weiß nicht, ob er diesen Tag des Friedens jemals erleben wird. Der Lagerarbeiter aus Tscherepowez beklagt, für seine Regierung sei das menschliche Leben nichts Wert: "Die sagen uns, geht an die Front. Ob wir aber jemals zurückkommen, ist ihnen egal. Wir sind für die bloß Kanonenfutter."

Auch Waleri Klepkin glaubt nicht an eine glückliche Zukunft in Russland, zumindest nicht in absehbarer Zeit: "Als der Bürgerkrieg in Russland vor über hundert Jahren ausbrach, konnten sich meine damaligen Landsleute auch nicht vorstellen, dass das sowjetische totalitäre Regime siebzig Jahre existieren wird. So lange wird Putin nicht mehr an der Macht sein, ein paar Jahrzehnte aber noch schon."

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