Kant aktuell: Neues vom Büchermarkt
20. Februar 2004Der Deutsch-Kanadier Manfred Kühn erinnert in seinem bei H.C. Beck editierten Band "Kant: eine Biographie" an den eigentlichen Antrieb philosophischer Lagerkämpfe seit dem frühen 18. Jahrhundert: Bei ihren hitzigen Kontroversen, in denen der vom Pietismus zum Agnostizismus gelangte Kant zwischen Anhängern der Kraftmessungstheorie von Leibniz, jenen der Physik von Descartes und der experimentellen Naturphilosophie von Newton zu vermitteln versucht hat, ging es um nicht weniger Fundamentales, als um das Verhältnis zwischen Leib und Seele. Rationalismus, Materialismus, kritischer Idealismus, Ideen wie Freiheit und Persönlichkeit bahnen sich von hier aus ihren Weg.
Verschiedene Schwerpunkte
Manfred Geiers Kant-Biographie ist unter dem Titel "Kants Welt" im Rowohlt Verlag erschienen. Ein qualitatives Ausspielen zwischen den beiden Biographen wäre schon deshalb in sich kaum schlüssig, weil sie, durchaus
plausibel, unterschiedliche Schwerpunkte setzen. Beide verstehen es, ungeheuer komplexe Weltbilder leserfreundlich zu vermitteln. Beide führen durch Kants Königsberger Bürgerlichkeit und die mühselige Universitätskarriere des Giganten ebenso wie durch den Kosmos seiner metaphysischen Reflexionen, in denen er Antwort auf Fragen nach einem Gott, dem Dasein und dem eigenen Ich sucht.
Kant und der Geisterseher
Unterschiedliche Stellenwerte setzen Geier und Kühn vor allem bei der Zuordnung von Einflüssen auf Kant. Etwa jenem des schwedischen Geistersehers und Theosophen Swedenborg, auf dessen Schriften Kant sich wie auf keinen anderen Verfasser je eingelassen hat. Seine
Ausstrahlung auf Kant und schließlich dessen Abkehr von Swedenborgs metaphysischen Träumen - mit Hilfe von Newtons "Mathematischen Prinzipien der Naturlehre" - bilden weit mehr als eine Episode. Deshalb widmet Geier diesem Lebensabschnitt eine ausgedehnte Betrachtung. Dem Verfasser Kühn dagegen ist Swedenborg nur wenige
Seiten wert.
Dafür investiert Kühn breiteren Raum in die persönlichen Freunde Kants. So in den Kaufmann Joseph Green, dessen Denkanstöße gar nicht hoch genug zu bewerten sind, zumal ihn der Philosoph um seine alltagspraktische Meinung über jeden Satz, etwa im Manuskript zur "Kritik der reinen Vernunft", gefragt hat.
Kritik an der Kritik
Deutlich klarer als Kühn dagegen: Der von Geier aufgezeigte Mangel im didaktischen Aufbau der "Kritik der reinen Vernunft", in dem Kant die Lösung eigentlich vor das Problem stellt und damit das Leseverständnis erschwert. Außerdem historisch mitreißender bei Geier: Der Kampf der Gegenaufklärer nach dem Tod des Preußenkönigs
Friedrich des Großen, 1786. Ein eindrucksvolles Stück Geschichte, eng verbunden mit dem Schicksal des alternden Kant.
In jedes denkbare Resümee nach der Lektüre beider Bücher spielt zwangsläufig ein subjektives Bewertungstemperament hinein. Müsste der Rezensent eines der Werke vorziehen, fiele seine Wahl auf den bündigeren Manfred Geier. Manfred Kühns Biographie ist ausladender, weniger stringent - besticht andererseits mit viel Persönlichem, das den Revolutionär in der Geschichte des abendländischen Denkens umsichtig porträtiert. Wer Gelegenheit findet, sollte beide Bücher lesen - und sie sich gegenseitig ergänzen lassen.
Manfred Geier: "Kants Welt: Eine Biographie", Rowohlt
350 Seiten; 24,90 Euro
Manfred Kühn: "Kant. Eine Biographie", C.H. Beck
639 Seite, 29,90 Euro