"Kant ist der entscheidende Denker der Moderne"
12. Februar 2004DW-TV: Am 12. Februar 2004 jährt sich der 200. Todestag von Immanuel Kant. Was bedeutet Ihnen der Philosoph persönlich?
Joschka Fischer: "Er ist einer der größten Philosophen. Ich habe alle seine wichtigen Werke früher selbst gelesen, und ich denke, sein Einfluss auf das politische Denken seiner sehr, sehr großen Schrift wie "Der ewige Friede" ist - gerade in der aktuellen Diskussion - wieder in den Mittelpunkt gerückt worden. Und Kants Ideen, auch seine praktische Philosophie, seine Ethik, der kategorische Imperativ, wie auch seine Kritik der theoretischen Vernunft sind Werke von bleibender Bedeutung im abendländischen Denken, das geht weit, weit über den deutschen Sprachraum hinaus."
Sie haben die Schrift vom ewigen Frieden angesprochen. Dieses Konzept einer Weltregierung, das da entworfen wird: Ist die UNO ein Kind des Kant'-schen Denkens?
"Ich glaube, Kant ist der entscheidende Denker der Moderne. Er hat zwar nicht in Richtung UNO gedacht, aber die Konsequenzen gezogen, und es ist eine Schrift von bleibendem Wert. Ihm gegenüber wird ja Hobbes gesetzt, in einer Schrift von Robert Kagan. Wir Europäer werden mit Kant identifiziert, was uns ehrt, während die USA sich mehr auf Hobbes beziehen. Nun sind die USA ja gegen das Hobbes´sche Denken gegründet worden. Aber ich möchte da nicht so in die Details gehen. - Ja, es steckt da natürlich viel vom Kant´schen Denken drin, auch wenn Sie in "Der ewige Frieden" nichts von der UNO finden - aber der Geist dieser Schrift ist doch sehr davon geprägt."
Welche Maximen in Kants Gedankengebäude sind denn für einen Politiker heute noch unmittelbar handlungshaltend?
"Das könnte man sich ganz einfach machen und sich sozusagen auf das Sittengesetz beziehen. Will ich aber nicht tun. Es ist im Grunde genommen das Setzen auf die Vernunft, dass man die Welt vernünftig anschaut, und dass man gleichzeitig auch um die Grenzen der Vernunft weiß. Kant hat die Vernunft auf die Welt der Erscheinung bezogen und das Jenseits davon als Ding an sich definiert und die Welt als eine vernünftige Veranstaltung. Ich glaube, dass ist das Entscheidende, was ein Politiker von Kant lernen kann. Zur vernünftigen Veranstaltung gehört die moralische Begründung, ohne jeden Zweifel. Das spielt ebenfalls eine zentrale Rolle. Aber die Welt als eine vernünftige Welt: Das ist für mich der entscheidende Punkt und gleichzeitig auch um die Grenzen der Vernunft zu wissen, auch das muss ein Politiker kennen. Es gibt ein Jenseits der Vernunft und auch damit muss man rechnen."
Sie haben eben schon den ,Kategorischen Imperativ' erwähnt. Wie lesen Sie die Kant'sche Ethik? Ist es eher eine Gesinnungs- oder eine Verantwortungs-Ethik, die da heraustritt?
"Ich sehe da keinen Widerspruch. Ich denke, sie brauchen eine moralische Gesinnung, aber das Handeln ist das Entscheidende. Der praktischen Vernunft und nicht der theoretischen Vernunft ist das Sittengesetz von ihm definiert, der moralische, der kategorische Imperativ. Vielleicht ist es ganz gut, wenn man Kant in der einen Hand und Nietzsche in der anderen Hand hat. Denn damit wird klar, wozu gleich auch die Begrenzungen des Kant'schen Denkens liegen, wo aber notwendigerweise auch das Gefährliche im Überschreiten von Kant liegt. Aber beides gehört natürlich, gerade wenn man sich die deutsche Geistesgeschichte, aber auch die deutsche Geschichte als solche, auch die politische Geschichte, anschaut im 19. und dann im 20. Jahrhundert, beides gehört zusammen, wenn man diese Frage beantworten will. Also, je älter ich geworden bin, desto mehr habe ich mich von Hegel entfernt, schon gar von Nietzsche und bin wieder zu Kant zurückgekehrt, das lässt sich so ganz biographisch auf den Punkt bringen."