Nach Debakel im ersten Wahlgang: Merz neuer Bundeskanzler
6. Mai 2025
Am Ende hat es dann doch noch funktioniert, nach vielen turbulenten, zum Teil auch bedrückenden Momenten und bangen Stunden im politischen Berlin: Im zweiten Wahlgang hat Friedrich Merz, der Vorsitzende der CDU, im Bundestag die notwendige Mehrheit erhalten. Er erhielt 325 Stimmen, 289 Abgeordnete stimmten mit Nein.
Sichtlich erleichtert und etwas erschöpft sagte er: "Ich bedanke mich für das Vertrauen und nehme die Wahl an." Er ist damit der zehnte Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Und wird diesen Tag sicher lange nicht vergessen, wie viele der Teilnehmenden im Bundestag auch.
Schnell wird im politischen Berlin das Wort historisch bemüht: Ein Treffen zweier verfeindeter Politiker gilt schon mal als historisch, diese oder jenes Wahlergebnis auch. Nicht immer stimmt diese Titulierung. Heute, an diesem 6.Mai 2025, stimmt das Wort "historisch" aber allemal: Denn Merz verfehlte im ersten Wahlgang die erforderliche so genannte "Kanzlermehrheit." Und das gab es noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik.
Bislang sind neun Bundeskanzler oder Kanzlerinnen, von Konrad Adenauer bis Olaf Scholz, stets im ersten Wahlgang gewählt worden. Aber im Deutschland des Jahres 2025 ist nichts mehr, wie es einmal war.
Um kurz nach 10 Uhr verkündete die neue Parlamentspräsidentin Julia Klöckner, ebenfalls CDU, was denn doch niemand für möglich gehalten hätte: 621 Stimmen wurden abgegeben, 310 votierten dabei für Merz als Kanzler, 307 dagegen.
Mit dünner Stimme verkündete Klöckner dann die Sensation: "Der Abgeordnete Merz hat die erforderliche Mehrheit von 316 Stimmen nicht erreicht. Er ist gemäß Artikel 63, Absatz 2 des Grundgesetzes zum Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland nicht gewählt." Das Wort "nicht" zieht sie dabei etwas in die Länge, damit auch jeder die Dramatik versteht.
Denn so ist das im komplizierten Grundgesetz: Es hatten zwar mehr Abgeordnete für Merz als gegen ihn gestimmt. Das ist zwar eine Mehrheit, aber eben nicht die "Kanzlermehrheit". Denn um die große Bedeutung der Kanzlerwahl zu unterstreichen und für möglichst stabile Verhältnisse in der Regierung zu sorgen, hatten die Väter und Mütter des Grundgesetzes gesagt: Kanzler ist, wer die Mehrheit aller Mitglieder des Parlaments auf sich vereinigen kann. 630 Abgeordnete zählt der neue Bundestag. 315 ist die Hälfte, 316 bedeutet eine Stimme mehr, ergo: Die Kanzlermehrheit. Und die hatte Merz verfehlt.
Die Stunden nach der ersten Ablehnung tauchte Merz im Bundestag ab, sicher auch, weil nicht nur er, auch andere, diese Frage beschäftigte: Ab wann ist ein Kanzlerkandidat so beschädigt, dass seine Wahl kaum noch Sinn ergibt? Auch wenn er in seiner Fraktion, so hieß es im Parlament, nach seiner Niederlage großen Applaus bekommen habe. Merz entscheidet sich schnell, ein zweites Mal anzutreten.
18 Politiker aus dem Unions-SPD-Lager sagen nicht Ja
Aber warum hat er dann keine Mehrheit bekommen? 328 Stimmen bringen die drei möglichen Regierungsparteien zusammen, es haben also 18 Politiker des eigenen Lagers Merz die Stimme verweigert. Die Wahl findet geheim statt, schwer zu sagen also, wer aus den Reihen der SPD oder Union gegen den 69 Jahre alten Politiker von den Konservativen gestimmt hat. Dass es aber Parlamentarier von CDU, CSU oder SPD gewesen sein müssen, ist wohl gewiss. Und das nach - so die Wahrnehmung vieler Beobachter - eher unaufgeregten Koalitionsverhandlungen.
Das Ergebnis der Neuwahl im Februar war schon dramatisch genug: Nur 28,6 Prozent für die Union aus CDU und CSU, sehr schlechte 16,4 Prozent für die Sozialdemokraten. Dafür satte Gewinne für die "Alternative für Deutschland"(AfD), die vom Verfassungsschutz des Landes mittlerweile als "gesichert rechtsextrem" eingestuft wird.
Alle bisherige Kanzler gewannen auf Anhieb
Gegen die immer mehr polarisierende Stimmung im Land versuchten dann Union und SPD, eine neue Regierung zusammen zu bringen. Mit Merz als Kanzler und dem SPD-Vorsitzenden Lars Klingbeil als Vize und Finanzminister. Alle Ministerposten sind bereits vergeben. Mit vielen neuen, jungen Politikerinnen und Politikern.
328 Stimmen haben Union und SPD zusammen, zwölf Stimmen also über der Kanzlermehrheit. Keine komfortable Mehrheit; aber es gab viele Kanzler, Konrad Adenauer, den ersten Kanzler, etwa oder auch Helmut Kohl, die weitaus knappere Mehrheiten zur Verfügung hatten. Und dennoch sofort und ohne große Aufregung gewählt wurden.
Opposition: "Jetzt schon massiver Autoritätsverlust"
Mit versteinerten Minen standen sie da, als Parlamentspräsidentin Klöckner das Unfassbare verkündet hatte. Friedrich Merz verließ den Plenarsaal, besprach sich außerhalb mit Lars Klingbeil von der SPD. In Windeseile war der Plenarsaal leer. Die Fraktionen wurden zu Sondersitzungen zusammengerufen.
In der Lobby, dem Bereich vor dem Eingang zum Plenarsaal, stand derweil die frühere Grünen-Abgeordnete Renate Künast und sagte in die Kameras des Senders "Phoenix", für Merz sei das alles ein "massiver Autoritätsverlust". Und weiter: "Das hängt ihm am Nacken, das wird er nicht mehr los."
Jetzt bloß nichts Falsches sagen, lautete dann offenbar das Motto bei den Koalitionären. Immerhin, der SPD-Abgeordnete Ralf Stegner sagt der DW in Hinblick auf das Debakel: "Das kann keiner wollen. Und deshalb glaube ich sehr, dass die Sozialdemokraten jetzt genau wissen, was zu tun ist." Nämlich Merz im nächsten Wahlgang geschlossen zu wählen, sollte das wohl heißen.
Spekuliert wurde viel, natürlich: Dass längst nicht alle sozialdemokratischen Abgeordneten von Friedrich Merz als neuem Kanzler angetan sind, ist ein offenes Geheimnis. Viele monieren etwa die weitaus härtere Migrationspolitik, die sich die mögliche neue Regierung auf Druck der Union vorgenommen hat.
Und Merz selbst hatte noch im Wahlkampf neue Schulden strikt abgelehnt, dann aber nach der Bundestagswahl gigantische neue Kredite auf den Weg gebracht. Mit Zustimmung von SPD und Grünen; den politischen Gegnern also. Das nahmen ihm viele Parteifreunde übel.
Aber deshalb das Land ins politische Chaos stürzen, gar mögliche Neuwahlen heraufbeschwören? Vielleicht wollten die Gegner aus den eigenen Reihen nur ein Signal setzen, stimmten deshalb im ersten Wahlgang gegen Merz.
Der AfD spielt das Wahldesaster in die Karten. Seit der Bundestagswahl im Februar setzt die vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem eingestufte Partei darauf, die Christdemokraten vor sich herzutreiben.
Noch am Wahlabend verkündete die AfD-Co-Vorsitzende Alice Weidel im Partei-eigenen Fernsehen: "Wir werden sehen, was die nächsten Wochen bringen. Aber wenn das eintritt, was wir vorausgesehen haben, dass die CDU von der AfD abschreibt und dann Wahlbetrug begeht, indem man mit den Linken koaliert, dann kann ich euch sagen: Die nächste Wahl wird schneller kommen, als man denkt. Und dann werden wir die CDU überholen, das ist unser Ziel." In den jüngsten deutschen Meinungsumfragen liegt die AfD mittlerweile fast auf Augenhöhe mit den Unionsparteien.
Jetzt, an diesem Dienstag, sagt Weidel der DW: "Dadurch, dass Merz nicht mal die eigenen Leute hinter sich bringen konnte, was soll das dann für eine Regierung sein?"
Am Ende dann konnte Merz, wenn auch verspätet, sein Amt antreten. Am morgigen Mittwoch führen ihn erste Reisen zu den wichtigen Bündnispartnern nach Paris und Warschau. Und auch den schwierigsten Partner, US-Präsident Donald Trump, will Merz möglichst schnell seine Aufwartung machen. Alles auch in der Hoffnung, dass der holprige Start ins Kanzleramt bald auch international vergessen ist.