Kanzlerin setzt Laufzeitverlängerung aus
15. März 2011Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zieht Konsequenzen aus der Atomkatastrophe in Japan und setzt die erst im Herbst beschlossenen längeren Atomlaufzeiten für drei Monate aus. Dies kündigten Merkel und Vizekanzler Guido Westerwelle (FDP) am Montag in Berlin an. Alte Meiler, die nur wegen der längeren Laufzeiten noch am Netz sind, sollen abgeschaltet werden. Dies betrifft das Kraftwerk Biblis A in Hessen und das AKW Neckarwestheim I in Baden-Württemberg sowie Isar I in Bayern. Der formelle Beschluss soll an diesem Dienstag (15.3.2011) gefasst werden, verlautete aus der Umgebung von Außenminister Guido Westerwelle. Zudem trifft Merkel mit den Ministerpräsidenten zusammen, in deren Länder Atomkraftwerke stehen, um über Konsequenzen aus der Katastrophe in Japan zu sprechen. An dem Treffen nehmen auch Wirtschaftsminister Brüderle (FDP) und Umweltminister Röttgen (CDU) teil. Im Anschluss sollen die Vorsitzenden der Bundestagsfraktionen unterrichtet werden.
"Sicherheit steht über allem", sagte Merkel am Montag. "Wir können nicht einfach zur Tagesordnung übergehen." Solche Erdbeben und Flutwellen wie in Japan seien in Deutschland zwar nicht wahrscheinlich. Doch die dortige Katastrophe "lehrt uns, dass Risiken, die für absolut unwahrscheinlich gehalten wurden, doch nicht vollends unwahrscheinlich sind". Wenn das schon in einem so hochentwickelten Land wie Japan so sei, das derart hohe Sicherheitsstandards habe, "hat das Folgen für die ganze Welt, für Europa und Deutschland". Die neue Lage in Deutschland müsse "vorbehaltlos, rückhaltlos und umfassend analysiert werden", sagte Merkel. "Erst danach folgen Entscheidungen."
"Ich sage ganz deutlich: Es gibt bei dieser Sicherheitsüberprüfung keine Tabus", betonte Merkel. Was dies für die einzelnen Kernkraftwerke bedeute, werde nach den Gesprächen mit den Betreibern feststehen. Die Kanzlerin fügte hinzu: "Die Lage nach dem Moratorium wird eine andere sein als die Lage vor dem Moratorium." Merkel will am Dienstag mit den Ministerpräsidenten der Länder sprechen, in denen Atommeiler stehen. Auch mit den Energiekonzernen will Merkel über die Pläne für die Abschaltung älterer Anlagen Gespräche führen. Das erst im November von Schwarz-Gelb beschlossene Gesetz zur Laufzeitverlängerung zu ändern, ist nach Ansicht Merkels nicht nötig.
"Über Risiken neu reden"
Umweltminister Norbert Röttgen (CDU), der sich im Herbst innerhalb der Koalition für kürzere Restlaufzeiten eingesetzt hatte, erklärte auf einer eigenen Pressekonferenz: "Je länger Kernkraftwerke laufen, desto länger begleitet uns Restrisiko. Und wir müssen auch über Risiken neu reden, neue Annahmen treffen." Röttgen machte deutlich, dass das seit rund 35 Jahren laufende Atomkraftwerk Neckarwestheim I in Baden-Württemberg angesichts des Atom-Moratoriums der Regierung vom Netz genommen werden müsse. Auch Bayerns ältestes Atomkraftwerk Isar I soll abgeschaltet werden. Das kündigte Landesumweltminister Markus Söder (CSU) an. Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) betonte in einer Mitteilung: "Maximale Sicherheit hat Vorrang vor wirtschaftlichen Interessen."
Das Moratorium und die Landtagswahlen
Auch die baden-württembergische Regierung rechnet damit, dass das zweitälteste deutsche Atomkraftwerk Neckarwestheim I bald vom Netz geht. Fachleute wollten am Montag mit einem Sicherheitscheck der Atomkraftwerke in dem Land beginnen. Hessens Umweltministerin Lucia Puttrich (CDU) kündigte an, dass Biblis A Ende Mai für zunächst einmal acht Monate vom Netz gehe. Geplant seien Revisionsarbeiten. Biblis B stehe derzeit ohnehin planmäßig still.
Doch die schwarz-gelbe Koalition auf Bundesebene will noch nicht auf die Atomkraft verzichten. Merkel sprach weiter von einer Brücke hin zu Öko-Energien. Westerwelle betonte, der Ausstieg aus der Atomenergie in Richtung erneuerbarer Energien müsse beschleunigt werden. Im Herbst hatte Schwarz-Gelb eine Laufzeitverlängerung für die Atomkraftwerke von durchschnittlich 12 Jahren beschlossen. Die 7 Meiler, die bis 1980 ans Netz gegangen waren, dürfen danach 8 Jahre länger laufen, die jüngeren 14 Jahre.
Opposition will Aus für Atomkraft
SPD, Linke und Grüne forderten am Montag eine komplette Abkehr von der Atomenergie in Deutschland. Die von der Koalition geplante Aussetzung der Laufzeitverlängerung für Atommeiler kritisierten sie als unzureichend. Die Oppositionsfraktionen wollen ihre Forderung nun im Bundestag zur Debatte stellen und ein endgültiges Aus für die ältesten Kernkraftwerke durchsetzen.
Die SPD-Spitze bekräftigte ihre Forderung nach einem schnellen Ausstieg aus der Atomenergie. SPD-Chef Sigmar Gabriel bezeichnete das Moratorium als leicht durchschaubaren Trick. Damit wolle Schwarz-Gelb sich lediglich über die anstehenden Landtagswahlen hinweg retten. Dies werde man der Regierung aber nicht durchgehen lassen.
Die Sozialdemokraten fordern eine Rückkehr zum rot-grünen Ausstiegsgesetz. Gabriel kündigte an, die SPD werde das Gesetz im Bundestag erneut zur namentlichen Abstimmung stellen. Das Gleiche gelte für das von ihm und seinem Vorgänger Jürgen Trittin (Grüne) als Bundesumweltminister erarbeitete atomtechnische Regelwerk. In einer dritten namentlichen Abstimmung will die SPD zudem die sofortige Stilllegung aller Atomkraftwerke fordern, die nicht gegen Flugzeugabstürze gesichert seien. Dann habe die Regierungskoalition die Möglichkeit, die Glaubwürdigkeit ihrer Beteuerungen in Sachen atomarer Sicherheit im Bundestag unter Beweis zu stellen, sagte Gabriel.
Grüne fordern sofortige Stilllegung
Im Bundestag wollen neben der SPD auch die Grünen eine Rücknahme der Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke zur Abstimmung stellen. Sie fordern eine sofortige Stilllegung der sieben ältesten Atommeiler in Deutschland. Einen solchen Antrag wollen die Grünen am Donnerstag im Bundestag einbringen, kündigte Fraktionschef Jürgen Trittin an. Er mahnte, die "maroden Altanlagen" dürften nicht länger laufen. Merkel wolle "ihre katastrophale Fehlentscheidung" aus dem vergangenen Herbst offenbar aussitzen, indem sie nun ein Moratorium verhänge. Aussitzen sei aber keine Lösung. Die Abstimmung im Bundestag sei die "Nagelprobe", ob die Bundesregierung es wirklich ernst meine. Im Parlament könnten die Koalitionsfraktionen "den Ankündigungen auch Taten folgen lassen".
Die Linke forderte die sofortige Abschaltung aller 17 deutschen Atomkraftwerke. Außerdem müsse der Verzicht auf Kernenergie sowie ein Exportverbot von Nukleartechnik im Grundgesetz verankert werden, sagte Linke-Chef Klaus Ernst in Berlin. Auch seine Partei will im Bundestag eine Abstimmung über einen echten Ausstieg aus der Atomenergie. Die Atompolitik der Bundesregierung und deren Reaktion auf das Reaktorunglück kritisierte Ernst scharf. Merkel habe die Lage nicht begriffen, wenn sie weiter an der Kernenergie festhalten wolle. "Ihre Reaktionen waren chaotisch und nicht verständlich", sagte Ernst. "Wenn die Bundeskanzlerin jetzt über die Aussetzung der Laufzeitverlängerungen nachdenkt, kommt sie ein wenig zu spät."
Greenpeace-Atomexperte Tobias Riedl kritisierte die Aussetzung der als "Beruhigungspille für den Bürger". Umwelt- und Anti-Atom-Verbände riefen zu weiteren Protesten gegen die Atomkraft auf. Bei Mahnwachen in mehreren Großstädten forderten mehr als 110.000 Demonstranten den Ausstieg aus der Atomkraft.
Autorin: Naima El Moussaoui (dpa, afp, dapd)
Redaktion: Sabine Faber