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Politik

#KarakaxList: Kritik an Europas China-Politik

Helena Kaschel mit Jens Thurau, Esther Felden, Andreas Becker
19. Februar 2020

Berichte der DW und anderer Medien enthüllen, mit welcher Willkür Peking muslimische Uiguren in Xinjiang verfolgt. Menschenrechtler und Politiker fordern nun einen härteren Kurs Deutschlands und Europas gegenüber China.

DW Investigativ Projekt: Uiguren Umerziehungslager in China ACHTUNG SPERRFRIST 17.02.2020/17.00 Uhr MEZ
Bild: AFP/G. Baker

Ein Anruf ins Ausland, das Tragen eines Kopftuches, das Schließen eines Restaurants während des Fastenmonats Ramadan - Banalitäten, die Hunderten Uiguren aus dem Kreis Karakax in der chinesischen Autonomieregion Xinjiang zum Verhängnis wurden: Eine Gefangenenliste, die der Deutschen Welle und anderen Medien zugespielt wurde, gibt Aufschluss über die willkürlichen Kriterien, auf deren Basis Angehörige der muslimischen Minderheit in chinesischen Lagern interniert wurden und werden.

Das geleakte Schriftstück dokumentiert auch die umfassende Überwachung von Uiguren in der Provinz: Neben Informationen zu den Inhaftierten enthält es persönliche Daten von Hunderten Angehörigen, Nachbarn und Freunden. Insgesamt tauchen mehr als 2000 Namen mit Hinweisen zu ihrem Sozialverhalten in der Liste auf. Zudem identifizierte die DW zahlreiche Verweise auf mutmaßliche Zwangsarbeit in Fabriken.

Religionsfreiheits-Beauftragter der Bundesregierung fordert UN-Untersuchung

Der Beauftragte der Bundesregierung für weltweite Religionsfreiheit, Markus Grübel, hat mit "großer Sorge" auf die Enthüllungen reagiert. "Wir dürfen den Assimilierungszwang, den die chinesische Regierung auf die Uiguren ausübt, nicht hinnehmen", sagte der CDU-Politiker der DW. "Menschen werden wegen ihres Glaubens inhaftiert, Kinder werden von ihren Eltern getrennt und die chinesische Regierung überwacht alle Bereiche des Lebens. Ein menschenwürdiges Leben kann unter diesen Umständen nicht mehr stattfinden." Grübel sprach sich für eine unabhängige Untersuchung der Lage der Uiguren durch die Vereinten Nationen aus. Bisher lehne die chinesische Regierung dies allerdings ab.

Eine Sprecherin des Auswärtigen Amtes sagte in der Bundespressekonferenz auf Fragen der DW, Deutschland, Großbritannien und die USA hätten China unter anderem im Januar im UN-Sicherheitsrat aufgefordert, die Menschenrechte zu achten, willkürliche Verhaftungen zu beenden und internationale Beobachter ins Land zu lassen. 

Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) hatte bei einer gemeinsamen Pressekonferenz am 13. Februar gesagt, er habe mit dem chinesischen Außenminister Wang Yi über die Lage der Uiguren gesprochen und setze nun auf "Transparenz".

Aiman Mazyek: "Ich schäme mich für unser Menschengeschlecht"

Der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime in Deutschland, Aiman Mazyek, sprach angesichts der neuen Berichte von einer "Katastrophe des 21. Jahrhunderts in Sachen Menschenrechtsverletzung". China scheine "vor allem eine moderne Sklaven-Ausbeutungsmaschine" in den Lagern aufzubauen. 

Uiguren seien die "Religionsgruppe mit der weltweit schwächsten politischen Lobby. [...] Ich schäme mich für unser Menschengeschlecht, und dafür, dass wir - auch die Muslime weltweit - zu schwach sind, diesen eklatanten Menschenrechtsverletzungen etwas entgegen zu setzen", sagte Mazyek der DW.

Unterdessen kritisierten Menschenrechtler und Oppositionspolitiker die bisherige China-Politik Deutschlands und der Europäischen Union. Der Außenpolitik-Experte der Grünen im Deutschen Bundestag, Omid Nouripour, forderte im Gespräch mit der DW "eine superklare Sprache, nicht nur der Bundesregierung, sondern aller Europäer und aller, die auf Menschenrechte etwas geben". Bislang habe die chinesische Regierung das Gefühl, "dass sie schalten und walten kann, wie sie will, weil wir aus ökonomischen Gründen leise treten. Das muss endlich aufhören."

Angst vor Chinas Lagern - Uiguren im türkischen Exil

04:18

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Die jüngsten Berichte über die Verfolgung der Uiguren in China seien "beängstigend" und zeigten, "dass die Repression eine Dimension hat, die mit Sicherheit und dem notwendigen Kampf gegen Extremismus und Terrorismus nichts mehr zu tun hat", erklärte Nouripour.

Sanktionen auf europäischer Ebene?

Auch die FDP-Politikerin Gyde Jensen, Vorsitzende des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe im Bundestag, forderte mit Blick auf die im vergangenen November veröffentlichten sogenannten "China Cables" und die jüngsten Enthüllungen konkrete politische Taten. "Die Bundesregierung muss sich spätestens jetzt klar dazu äußern", so Jensen. "Als internationale Gemeinschaft haben wir die Pflicht, uns bei solchen massiven Menschenrechtsverletzungen einzumischen. Dabei muss auch über Sanktionen auf EU-Ebene nachgedacht werden."

Ulrich Delius, Direktor der Gesellschaft für bedrohte Völker, verlangte ebenfalls europäische Strafmaßnahmen gegen China. "Verantwortliche für die Verbrechen müssen mit Reise-Sanktionen an der Einreise in die EU gehindert werden. Deutsche Firmen müssen ihre Aktivitäten in Xinjiang überprüfen." Beim EU-China-Gipfel in Leipzig im September etwa müsse Europa "deutlich Farbe bekennen und zu seinen Werten stehen". Deutschland und die EU dürften "nicht akzeptieren, dass Verbrechen gegen die Menschlichkeit ihres strategischen Partners China bei Gipfeltreffen verschwiegen oder als Randnotizen abgetan werden", so Delius.

Satellitenaufnahmen zeigen den Bau eines Umerziehungslagers in Xinjiang

Deutsche Unternehmen sehen keinen Anlass zum Umdenken

In der Region Xinjiang sind unter anderem die deutschen Großunternehmen Siemens, BASF und Volkswagen aktiv. Im Anschluss an die China-Cables-Enthüllungen hatte VW angegeben, man gehe davon aus, dass in der eigenen Fabrik in der Provinzhauptstadt Ürümqi, in der rund 650 Menschen arbeiten, "kein Mitarbeiter unter Zwang arbeitet". Der Autobauer teilte der DW am Dienstag auf Anfrage mit, an der damaligen Stellungnahme habe sich nichts geändert.

Auch Siemens ließ wissen, dass der Konzern die Situation nach der Auswertung der Karakax-Liste nicht neu beurteile. Im November hatte das Technologieunternehmen angegeben, ein Zehntel der rund 50 Mitarbeiter eines Siemens-Büros in Ürümqi seien Uiguren . "Uns ist nicht bekannt, dass dort Mitarbeiter unter Zwang arbeiten", hatte ein Sprecher damals der DW gesagt.

Siemens steht wegen seiner Zusammenarbeit mit dem chinesischen Rüstungszulieferer CETC in der Kritik. Dieser soll nach einem Bericht der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch eine App entwickelt haben, die von der chinesischen Polizei benutzt wird, um Uiguren zu verfolgen. Siemens liefere CETC "keine Produkte, die in Endprodukten unseres Kunden zum Einsatz kommen", erklärte der Konzern im November.

BASF teilte der DW auf Anfrage mit, der Konzern nehme "bei allen seinen Aktivitäten die Menschenrechte immer ernst. Wenn wir erfahren, dass es in unserem Geschäftsumfeld zu Menschenrechtsverletzungen kommt, machen wir unseren Einfluss dahin gehend geltend, dass diese sofort beendet werden." Dort, wo das Engagement des Unternehmens für Menschenrechte keine Wirkung zeige, "handeln wir nach unseren Werten, versuchen gegenseitigen Respekt vorzuleben und mit unserer Gegenwart vor Ort verantwortlich Handelnde zu unterstützen", so BASF weiter. Der Chemieriese betreibt in Korla, der zweitgrößten Stadt Xinjiangs, eine gemeinsame Fertigungsanlage mit einem chinesischen Partnerunternehmen. Im November hatte BASF erklärt, man sei sich "der sozialen Probleme im Raum Xinjiang bewusst". Dass Mitarbeiter unter Zwang arbeiteten, sei auszuschließen.

"Es hat mich einmal mehr erschaudern lassen"

Jewher Ilham, die Tochter des 2019 mit dem Sacharow-Preis ausgezeichneten und in China inhaftierten uigurischen Wissenschaftler und Menschenrechtlers Ilham Tohti, verurteilte die Praxis der chinesischen Führung, die aus der Karakax-Liste hervorgeht. "Viele der Informationen haben mich nicht überrascht. Es hat mich einmal mehr erschaudern lassen. So wie damals, als ich zum ersten Mal von der Umerziehungslagern gehört habe", sagte Jewher der DW am Rande des Geneva Summit for Human Rights and Democracy.

"Als ich über den neuen Leak gelesen habe, war es dasselbe Gefühl. Auch wenn ich vieles bereits von Freigelassenen der Camps gehört hatte, ist es schockierend, jetzt den Beweis zu haben, wie jemand von den Behörden ins Visier genommen wird, nur weil er Familienangehörige im Ausland hat. Das ist inakzeptabel und tragisch."

Jewher Ilham nahm im Dezember in Straßburg den EU-Menschenrechtspreis für ihren Vater Ilham Tohti entgegenBild: Reuters/V. Kessler

Chefredakteur chinesischer Staatszeitung spricht von "Verbesserungspotenzial"

Der chinesische Außenminister Wang Yi hatte Berichte über Vorwürfe systematischer Menschenrechtsverletzungen gegen Uiguren in China bei seinem Besuch in Berlin am 13. Februar als "einhundert Prozent pure Lügen" und "Fake News" bezeichnet. 

Derweil sprach der Chefredakteur der chinesischen staatlichen Zeitung "Global Times", Hu Xijin, mit Blick auf das "Deradikalisierungsprogramm" in Xianjing von "Verbesserungspotenzial". Über einige Details könne man diskutieren, schrieb Hu am Dienstag auf Twitter. "Aber Xinjiang hat das größere Ziel der Wiederherstellung von Frieden und Stabilität verwirklicht. Dies ist die größte Moral [sic]."

Am selben Tag veröffentlichte die "Global Times" einen Artikel, in dem die Authentizität der Karakax-Liste und die Glaubwürdigkeit eines von der DW und anderen westlichen Medien interviewten Experten infrage gestellt werden. Das Blatt zitiert unter anderem einen anonymen chinesischen Anti-Terror-Experten, der behauptet, europäische und US-Geheimdienste könnten in die Leaks rund um die Verfolgung von Uiguren in China und in das "Aufbauschen" des Themas involviert sein. Zahlreiche Twitter-Accounts mit Namen wie "April2154", "Shannon8766" und "Emily5527" verbreiteten den Beitrag in enger zeitlicher Abfolge und mit identischem Wortlaut. Dies legt nahe, dass es sich bei den Profilen um sogenannte Bots handelt, die automatisch arbeiten. 

Schätzungen zufolge werden in Xinjiang mehr als eine Million Menschen gegen ihren Willen in Lagern festgehalten und dort ideologisch umerzogen. Die chinesische Führung spricht von freiwilligen Bildungsmaßnahmen, mit denen "extremistisches Gedankengut" bekämpft werden solle.

2009 wurden bei gewaltsamen Protesten von Uiguren gegen Han-Chinesen in Ürümqi mindestens 140 Menschen getötet. 2014 wurden bei einem Selbstmordanschlag auf einem Marktplatz zahlreiche Menschen in den Tod gerissen.  

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