Karl Geiger: Zum Sieganwärter gereift
3. Januar 2020Seine Skispringer-Kollegen nennen ihn den "Ingenieur". Und Karl Geiger ist tatsächlich einer. In der Woche vor der Vierschanzentournee hat der 26-Jährige an der Hochschule Kempten sein Studium der Energie- und Umwelttechnik abgeschlossen und darf sich nun "Bachelor of Engineering" nennen. Doch auch wenn es im Skispringen auf die richtige Technik und gutes Material ankommt, weiß Geiger: "Am Reißbrett kann man in unserer Sportart keine Erfolge planen." Man muss sie sich stetig erarbeiten und darf dabei nicht die Geduld verlieren.
Ein Shooting Star, der wie aus dem Nichts auftaucht und die Skisprungwelt aufmischt, ist Geiger nicht. Seit über 20 Jahren betreibt er seinen Sport. "Meinen ersten Sprung habe ich mit fünf Jahren gemacht, mit Alpinskiern. Ich kam sieben Meter weit", erzählte Geiger im vergangenen Jahr in einer Fernsehsendung des Bayerischen Rundfunks (BR). Im heimischen Skiclub Oberstdorf trat "Karle", wie er oft gerufen wird, in die Skisprung-Trainingsgruppe ein, zu der übrigens auch Johannes Rydzek gehörte, später Olympiasieger und Weltmeister in der Nordischen Kombination. Geiger hatte es nicht weit zum Training. Das Haus, in dem Karl mit seinen Eltern und seinen beiden Schwestern lebte, lag etwa in der Mitte zwischen der Skisprunganlage in Oberstdorf, auf der traditionell das erste Springen der Vierschanzentournee ausgetragen wird, und der Heini-Klopfer-Skiflugschanze im nahe gelegenen Stillachtal, einer der größten Schanzenanlagen der Welt.
Es riecht nach Podestplatz
"Ich habe mich langsam durchgeschlängelt", beschreibt Geiger seinen Werdegang als Skispringer, der sich ganz gut an seinem Abschneiden in der Gesamtwertung der Vierschanzentournee ablesen lassen kann: 59. Rang (2012/13), 48. (2013/14), 58. (2014/15), 31. (2015/16), 18. (2016/17), 11. (2017/18 und 2018/19). In diesem Jahr riecht es nach einem Podestplatz, möglicherweise sogar dem obersten. "Der sieht wirklich sehr schön aus", sagte Geiger, als er beim Neujahrsspringen in Garmisch den goldenen Adler bewundern konnte, die Siegertrophäe der Tournee: "Aber noch heißt es: gucken, nicht anfassen."
Ein guter Teamspringer war der 1,83 Meter große und 64 Kilogramm schwere Athlet, der beim deutschen Zoll angestellt ist, schon lange - olympisches Silber 2018 in Pyeongchang sollte als Beleg genügen. Doch in den Einzelwettbewerben versagten ihm häufig die Nerven. Das hat sich gründlich geändert. Bei dieser Vierschanzentournee präsentiert sich Geiger cool und fokussiert. "Die zaubern alle nicht und kochen auch nur mit Wasser", sagt der deutsche Skispringer über seine Konkurrenten an der Spitze des Gesamtklassements. Er könnte nun der erste deutsche Gesamtsieger seit 2002 werden. Damals gewann Sven Hannawald als erster Springer alle vier Einzelwettbewerbe und sicherte sich den Gesamtsieg.
Erste Weltcupsiege im Winter 2018/19
Das Selbstbewusstsein, das ihn heute so stark macht, hat sich Geiger vor allem im Winter 2018/19 geholt, in dem "der Knoten endgültig geplatzt ist", wie er selbst sagt. In jener Saison feierte Geiger in Engelberg und Willingen seine ersten beiden Weltcup-Einzelsiege und holte bei der WM in Seefeld gleich dreimal Edelmetall: Gold mit dem Team und der Mixed-Mannschaft sowie Silber im Einzel-Springen von der Großschanze.
"Was der Karl macht, ist außergewöhnlich", lobt Bundestrainer Stefan Horngacher die sportlichen Leistungen seines Schützlings, aber auch dessen charakterlichen Eigenschaften: "Er verstellt sich nicht. Er ist, wie er ist. Es macht Spaß, mit ihm zu arbeiten." Vielleicht auch, weil Geiger selbst Spaß am Fliegen hat - ob in der Freizeit mit dem Gleitschirm oder eben als Leistungssportler von der Skisprungschanze. Den Reiz der Sportart, der er sich verschrieben hat, beschreibt Geiger so: "Die Geschwindigkeit, das schwerelose Gefühl, durch die Luft zu fliegen, das ist einfach cool."