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Katastrophe mit Ankündigung

Philipp Lichterbeck Rio
3. September 2018

200 Jahre Geschichte in einer Nacht vernichtet: Das riesige Nationalmuseum in Rio ist abgebrannt. Die ersten Reaktionen sind Trauer und Schock. Es zeigt sich aber auch: Das Feuer wäre zu verhindern gewesen.

Brasilien Großbrand im Nationalmuseum in Rio de Janeiro
Stundenlang loderten riesige Flammendome über dem Gebäude in den Nachthimmel RiosBild: Reuters/R. Moraes

Museumsbrand in Rio

02:10

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Als die Nachricht sich am Abend in Rio de Janeiro verbreitete, eilten zahlreiche Angestellte des brasilianischen Nationalmuseum in den Stadtpark Quinta da Boa Vista. Was sie sahen, trieb ihnen die Tränen in die Augen. Das größte natur- und völkerkundliche Museum Lateinamerikas stand lichterloh in Flammen. Es hatte am Sonntagabend nach der Schließung aus ungeklärten Gründen Feuer gefangen und brannte komplett aus. Stundenlang loderten riesige Flammendome über dem Gebäude in den Nachthimmel Rios. Menschen kamen nicht zu Schaden, aber die Sammlung des Museums mit 20 Millionen Ausstellungsstücken scheint komplett verloren zu sein.

Die Verzweiflung zeigte sich auch daran, dass einige Museumsangestellte in den brennenden Bau eindringen wollten, um zu retten, was zu retten war. Sie wurden von der Polizei daran gehindert. Eine Vizedirektorin des Museums, Cristiana Serejo, brach vor dem Museum zusammen. Sie sagte: "Die Lebensleistung vieler Menschen verbrennt hier vor unseren Augen. Mir fehlen die Worte."

"Wie sollen wir das zukünftigen Generationen erklären?"

Die Zerstörung des Museums ist einer der tragischsten Verluste für die Geschichts- und Naturwissenschaft Lateinamerikas und Brasiliens. In ersten Reaktionen zeigten sich Kulturschaffende, Wissenschaftler und Intellektuelle geschockt über die Katastrophe. Der Vizedirektor des Museums, Luiz Duarte, sagte dem Fernsehsender TV Globo: "200 Jahre Geschichte, 200 Jahre Erinnerung, 200 Jahre Wissenschaft, Kultur und Bildung sind in einer Nacht vernichtet worden. Das ist schwer zu ertragen."

Das mit 12000 Jahren älteste menschliche Fossil ganz Amerikas gehörte zur SammlungBild: Getty Images/AFP/A. Scorza

Kátia Bogéa, Präsidentin des Nationalen Instituts für das Historische und Künstlerische Erbe (IPHAN), lenkte den Blick auf den generellen Umgang Brasiliens mit seiner Geschichte. Sie klagte in einem Interview, dass das historische Erbe Brasiliens in schlechtem Zustand sei. Der Brand stehe stellvertretend dafür. Auch Paulo Knauss, Direktor des Nationalmuseums für Geschichte, verbarg nicht seine Resignation angesichts der Katastrophe: "Es erfüllt mich mit Scham, dass wir es als Gesellschaft nicht schaffen, unser historisches Erbe als Wert an sich zu begreifen. Als Brücke zwischen unserer Epoche und zukünftigen Generationen."

Ähnlich sah es der Kolumnist Marcos Augusto Gonçalves: "Wie sollen wir zukünftigen Generationen erklären, dass wir es zugelassen haben, das unser ältestes Museum mit seiner unermesslichen Sammlung zu Asche wird?"

Museen sind unterfinanziert

Die Sammlung des Museu Nacional beinhaltete Stücke, die von Dom Pedro II., dem zweiten und letzten Kaiser Brasiliens, ins Land gebracht worden waren. Es gab die größte Sammlung ägyptischer Mumien Lateinamerikas zu sehen, griechische Artefakte, das mit 12.000 Jahren älteste menschliche Fossil ganz Amerikas. Beliebt war auch die Ausstellung der Dinosaurierskelette und eine enorme Sammlung mit Insekten aus aller Welt.

Brasiliens Präsident Michel Temer äußerte per Twitter, dass die Größe des Verlusts für Brasilien "noch gar nicht abzusehen" sei. Als "immense Tragödie" bezeichnete Brasiliens Kulturminister Sérgio Sá Leitão den Brand. "Das Depot des Museums war fabelhaft. Wir müssen uns viel besser um unsere Museen kümmern." Der Verlust sei unwiederbringlich und die Kultur Brasiliens trage Trauer. Man müsse nun investieren, damit sich Ähnliches nicht wiederhole.

Sá Leitão sprach damit ein heikles Thema an: die sträfliche Vernachlässigung und Unterfinanzierung der brasilianischen Museen. Brasilien leidet seit 2014 unter einer schweren Wirtschaftskrise. Deswegen hat die Regierung von Präsident Temer die Ausgaben für Kultur und Soziales stark eingeschränkt. Davon war auch das Nationalmuseum betroffen, dessen Instandhaltung nicht mehr gewährleistet werden konnte.

Deswegen sprachen viele von einer "Tragödie mit Ankündigung". Der Vizedirektor des Nationalmuseums, Luiz Duarte, beklagte, dass Brasiliens Regierungen das Museum regelrecht verfallen lassen hätten. Zum 200. Gründungstag des Museums im Juni war nicht ein einziger Minister erschienen. "Jahrelang haben wir dafür gekämpft, ein angemessenes Budget zu bekommen", sagte Duarte. "Nun brauchen wir es nicht mehr."

Gebäude von historischen Bedeutung

Untergebracht war das Museum im São-Cristóvão-Palast inmitten des Stadtparks Quinta da Boa Vista. Das Gebäude war historisch bedeutend, weil es der brasilianischen Kaiserfamilie als erste Residenz gedient hatte. Nach dem Ende der Monarchie beherbergte es die erste Verfassungsversammlung der brasilianischen Republik 1891. Ein Jahr darauf wurde es als Nationalmuseum Brasiliens eingeweiht. Ein Beobachter vor Ort sagte, es sei als ob das British Museum und der Buckingham Palast zusammen abgebrannt wären.

Das Museum war im São-Cristóvão-Palast untergebracht. Das Gebäude hat einst der brasilianischen Kaiserfamilie als Residenz gedientBild: picture-alliance/dpa/R. Leoni

Zuständig für die Verwaltung des Museums war die Bundesuniversität von Rio de Janeiro (UFRJ). Dessen Rektor kritisierte die Arbeit der Feuerwehr: "Wir haben sehr klar bemerkt, dass es bei der Brandbekämpfung an Logistik und Infrastruktur fehlte."

Tatsächlich konnten die Feuerwehrleute erst 40 Minuten nach ihrem Eintreffen mit der Arbeit beginnen, weil die Hydranten in nächster Nähe des Museums kein Wasser führten. Auch deswegen konnte sich das Feuer schnell vorwärts fressen. Die Feuerwehr hatte den Brand, der gegen 19 Uhr begonnen hatte, erst um drei Uhr morgens unter Kontrolle. Ob das Gebäude gerettet werden kann oder abgerissen werden muss, war am Montagmorgen nicht klar.

Viele sehen den Brand nun als Metapher für den schlechten generellen Zustand Brasiliens. Der Architekt Washington Fajardo sprach davon, dass das "Museum der brasilianischen Zivilisation" zerstört worden sei. "Der Brand hat eine düstere symbolische Dimension in einem Moment, in dem Brasilien in unseren Händen zu zerbröckeln scheint." Und als "nationalen Selbstmord" beschrieb der bekannte Kolumnist Bernard Mello Franco die Tragödie. Es sei ein "Verbrechen gegen vergangene und zukünftige Generationen".

"Wir sind alle Nationalmuseum"

Im Internet tauchte nun bereits eine Seite auf, die sich der Geschichte des Museums widmet. Ihr Titel: "Wir sind alle Nationalmuseum". Am Nachmittag versammelten sich rund Tausend überwiegend junge Menschen, darunter viele Studenten, vor dem ausgebrannten Nationalmuseum zu einer spontanen Demonstration. Sie wollten ihre Wut und Trauer zeigen und gerieten kurzzeitig mit der Militärpolizei aneinander, die den Museumspark abriegelte und Tränengas verschoss. 

Viele Demonstranten hatten selbstgemachte Plakate mitgebracht. Auf einem stand "Wissenschaft ist keine Ausgabe. Sie ist eine Investition." Auf einem anderen, in Bezug auf das älteste menschliche Fossil Amerikas, das den Spitznamen "Luzia" trug: "Luzia hat 13 Millionen Jahre in der Natur überlebt, aber keine 50 Jahre in den Händen der Regierung". Zeitweilig skandierte die Menge "Temer Raus!" Für den Abend war eine weitere Demonstration im Zentrum Rios angekündigt.

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