1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

Kehrt die Gewalt zurück nach Nordirland?

Peter Geoghegan | Cathrin Hennicke
10. April 2018

Vor 20 Jahren beendete das Karfreitagsabkommen den Bürgerkrieg zwischen irischen Nationalisten und pro-britischen Unionisten in Nordirland. Nun droht der alte Konflikt neu aufzubrechen. Peter Geoghegan aus Belfast.

Nordirland Friedenslinien in Belfast Tor
Bild: picture-alliance/dpa/T. Dapp

10. April 1998 - drei Jahrzehnte religiös motivierter Gewalt in Nordirland finden ein Ende. In Belfast unterzeichnen einstige Erzfeinde das so genannte Karfreitagsabkommen. Nach 30 Jahren blutigem Bürgerkrieg mit mehr als 3500 Toten einigen sie sich darauf, die Macht in der britischen Provinz Nordirland zwischen pro-irischen Katholiken und pro-britischen Protestanten zu teilen.

Der damalige britische Premierminister Tony Blair sprach von der "Hand der Geschichte", die auf den Schultern der Unterzeichner ruhe; neben den Regierungen in London und Dublin waren das Vertreter von mehr als einem halben Dutzend rivalisierender politischer Lager. Volksabstimmungen auf beiden Seiten der Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland besiegelten das Abkommen.

An das Karfreitagsabkommen waren große Erwartungen geknüpft: Es sollte Nordirland transformieren. Zwanzig Jahre später schweigen die Waffen tatsächlich noch immer. Die Hauptstadt Belfast hat sich als geschäftige, moderne Stadt neu erfunden und ist ein beliebtes Touristenziel.

Doch der Frieden in Nordirland wirkt angespannt. Vor mehr als einem Jahr brach die Einheits-Regierung auseinander. Der Brexit hat alte Fragen nach Souveränität und nationaler Identität wieder aufgeworfen.

Auch 20 Jahre nach dem blutigen Bürgerkrieg trennt eine Mauer pro-irische und pro-britische NordirenBild: picture-alliance/AP/P. Morrison

Protestanten und Katholiken werden noch immer von einer mehr als drei Meter hohen "Friedensmauer" getrennt. Die alten Trennlinien sind für viele nach wie vor Teil des Alltags. "Das Karfreitagsabkommen sollte nicht nur den Krieg beenden. Es sollte sicherstellen, dass wir uns auf beiden Seiten der Barrikaden bewegen können, dass man keine Angst haben muss, in bestimmte Gebiete zu gehen. Aber die Angst ist immer noch da", sagt Paul Gallagher.

Gallagher war erst 21 Jahre alt, als bewaffnete pro-britische Unionisten das Haus seiner Familie in einer überwiegend irisch-nationalistischen Nachbarschaft in Belfast überfielen. Sechs Schüsse trafen ihn, seitdem sitzt er im Rollstuhl.

Schatten der Vergangenheit

Vor dem Fenster des Hauses, in dem Gallagher angeschossen wurde, prangen die irischen Farben an Laternenpfählen. Ein paar hundert Meter weiter flattert eine britische Flagge im Wind. Gewalt ist noch immer üblich in dieser Gegend, besonders während der umstrittenen Oraniermärsche der Protestanten.

Kämpft für die Unterstützung der Bürgerkriegsopfer: Paul Gallagher, selbst Opfer der GewaltBild: DW/P. Geoghegan

"Nach der Unterzeichnung des Abkommens hätten wir uns weiterentwickeln sollen. Doch das ist auf vielen Gebieten nicht passiert", sagt Gallagher. Er hat Jahre damit verbracht, Pensionen für die rund 500 dauerhaft Geschädigten zu erkämpfen, die während des Bürgerkrieges schwer verletzt wurden. Doch Gesetze, die den Betroffenen Opferrenten garantierten, konnten nicht umgesetzt werden, weil über die Bedingungen, die ein Opfer erfüllen muss, keine Einigung möglich war.

Vor allem viele Unionisten verweigern ehemaligen paramilitärischen Kämpfern die Anerkennung als Opfer. Für andere dagegen, einschließlich vieler irischer Republikaner, sind diese Kämpfer Helden, denen Unterstützung zusteht.

Für Stephen Farry von der überkonfessionellen Alliance Party ist der Streit um die Opferpensionen nur Teil einer viel größeren Auseinandersetzung - darüber, was in der Vergangenheit geschah, und welche Bedeutung das Karfreitagsabkommen hat: "Es gibt einen andauernden Kampf um die Deutungshoheit. Das Karfreitagsabkommen wird ganz unterschiedlich interpretiert."

Die "Friedensmauer" ist nach wie vor fester Bestandteil des Alltags in NordirlandBild: picture-alliance/empics/N. Carson

Gewalt der anderen Art

Im Karfreitagsabkommen wurde festgeschrieben, wie Nordirland regiert werden soll, wie sich Nationalisten und Unionisten die Macht teilen sollen. Aber das 35-seitige Dokument sagte kaum etwas über den Umgang mit dem Erbe des blutigen Konflikts aus. Das führt dazu, dass der Blick immer wieder auf die Vergangenheit gerichtet wird.

"20 Jahre lang wurden wichtige Fragen nicht angegangen", sagt Tom Roberts, ehemals pro-britischer Kämpfer, der jetzt ein Zentrum für Ex-Gefangene leitet. "Als das Abkommen unterzeichnet wurde, war die Euphorie groß. Es herrschte eine großzügige Atmosphäre. Aber vieles davon ist innerhalb der letzten fünf Jahre verschwunden. Inzwischen haben sich die Ansichten in den beiden gesellschaftlichen Gruppen geändert."

Ungefähr 30.000 Menschen saßen während des Konflikts im Gefängnis. Tausende davon wurden in den 1990er-Jahren nach den Vorgaben des Abkommens entlassen. Nun gibt es erste Anzeichen dafür, dass die Gewalt nach Nordirland zurückkehren könnte.Denn etliche ehemalige Kämpfer sind mit ihrem Leben nach dem Ende des Bürgerkriegs unglücklich. "Es gibt noch immer Gewalt, aber es es die Gewalt der Armut. Nichts hat sich geändert", sagt Robert Henry, ein ehemaliges Mitglied der pro-irischen Terrorgruppe IRA. Henry trat der IRA in West-Belfast als Teenager bei und saß in den 1980er-Jahren sechs Jahre im Gefängnis.

Sorge um eine strikte Grenzziehung nach dem Brexit belastet den ohnehin angespannten Frieden Bild: Getty Images/AFP/P. Faith

Frieden und Desillusionierung

Zwei Jahrzehnte nach dem Abkommen ist Henry von der Nordirlandpolitik enttäuscht. Er teilt das Schicksal vieler ehemaliger Häftlinge: Im öffentlichen Dienst findet er keinen Job, und von vielen Dingen ist er ausgeschlossen, von Hausratsversicherungen bis zu Reisen in die USA. Aber am heftigsten kritisiert er seine ehemaligen Mitkämpfer. "Wofür haben wir diesen Frieden? In 20 Jahren der Selbstverwaltung können wir nicht einen einzigen Erfolg vorweisen", empört sich Henry.

Der einstige IRA-Kämpfer beklagt, dass die republikanische Sinn-Fein-Partei "keinen Plan" habe für ihr eigentliches Ziel: ein geeintes Irland. "Wir wählen in Scharen, aber wir sind Protestwähler. Wir oder sie, darum geht es. Ich komme an einen Punkt, an dem ich nicht mehr für Sinn Fein stimmen werde", erklärt er.

Die Ernüchterung ist deutlich spürbar. Eine überwältigende Mehrheit der Wähler unterstützt noch immer die extremen Parteien, vor allem seit dem Zusammenbruch der Einheitsregierung. Bei den Parlamentswahlen im vergangenen Jahr gingen 17 der 18 nordirischen Mandate an die Hardliner der DUP (Democratic Unionist Party) oder an Sinn Fein.

Dass DUP und Sinn Fein sich in Belfast noch einmal die Macht teilen werden, ist unwahrscheinlich. Die Abkehr Großbritanniens von der Europäischen Union hat die Fronten weiter verhärtet. Während die meisten nordirischen Wähler gegen den Brexit sind, wird er von der DUP nachdrücklich unterstützt.

Das Karfreitagsabkommen brachte Frieden, aber Nordirland bleibt tief gespalten. "Nationalisten und Unionisten stimmten für einen Nichtangriffspakt", erklärt Duncan Morrow, Politikprofessor an der Universität von Ulster. "Aber wir haben noch immer keine Einigung über Flaggen, über Paraden oder darüber, wie wir mit der Vergangenheit umgehen. Und wir haben immer noch keine Vision einer gemeinsamen Zukunft."

Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen