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Kein Platz für freie Kultur in Russland

Anastassia Boutsko25. April 2015

Im Schatten der politischen Wirren wird Russlands Kultur zunehmend staatlich gesteuert. Kulturschaffende beklagen eklatante Einschnitte in ihrer künstlerischen Freiheit. Die russische Kultur ist an einem Scheideweg.

Radikal: der Künstler Pjotr Pavlensky protestierte auf diese Weise gegen Mundtotmachung in seinem Land
Radikal: der Künstler Pjotr Pavlensky protestierte auf diese Weise gegen Mundtotmachung in seinem LandBild: Pjotr Pavlensky

Zum Eklat kam es bei der Verleihung der "Goldenen Maske", der höchsten Theaterauszeichnung in Russland, am Abend des 18. April. Als der Kulturminister Wladimir Medinski auf die Bühne kam, um den begehrten Preis zu überreichen, wurde er ausgebuht. "Holt den Tannhäuser zurück!", schrie man aus dem Saal. Das war der erste Fall öffentlichen Protestes der Kulturschaffenden seit Jahren.

Der Fall „Tannhäuser“

Der Fall "Tannhäuser" steht exemplarisch für die dramatische Einengung der künstlerischen Freiheit. Dabei wird deutlich, dass eine Klerikalisierung des gesamten öffentlichen Lebens vom Staat gesteuert wird.

Hier die Kurzfassung der Geschichte, die das Land über einige Wochen bewegte: Die Nowosibirsker Staatsoper zeigte kurz vor Weihnachten 2014 eine "Tannhäuser" -Inszenierung des jungen Regisseurs Timofej Kuljabin. Die durchaus schlüssige Lesart der Oper von Richard Wagner deutete die Szene in der Venus-Grotte als "Versuchung Christi", frei nach Pasolini und eigentlich ganz im Sinne des Wagnerschen Widerstreits zwischen christlicher Tugend und heidnischer Sinnlichkeit.

Als "antichristlich" gebrandmarkt: "Tannhäuser" in NowosibirskBild: picture alliance/RIA Novosti/Kryazhev

Bischof Tichon, ein reaktionärer Kleriker, wertete das als Angriff und hetzte seine Leute gegen das Theater, das er selbst nie betreten hat. Die Staatsanwaltschaft musste prüfen, inwiefern die Aufführung die religiösen Gefühle der Orthodoxen verletze. Ein Gericht sprach die Künstler frei. Da aber interveniert das Kulturministerium: der Operndirektor Mezdritsch wurde entlassen, das Stück aus dem Repertoire entfernt.

In einem DW-Interview bezeichnete Mezdritsch den Vorgang als "absurd": "Keiner der 'Angegriffenen' hat das Stück je gesehen. An uns wird ein Exempel statuiert". Dem ganzen Land werde eine "Monokultur im Geiste der russischen Tradition und des Patriotismus" aufgezwungen, so der erfahrene Theatermann. Dabei beansprucht der Staat für sich die Deutungshoheit über "Tradition" und "Patriotismus".

Der Spielraum wird immer kleiner

Die Realität zeigt ganz klar, was damit gemeint ist: Hetzjagd auf auf den Rock-Sänger Andrej Makarewitsch oder den Kult-Kinderbuchautor Eduard Uspenskij. Beide hatten die Krim-Annexion und den Krieg gegen die Ukraine kritisiert. Hinzu kommen Säuberungsaktionen im Verlagswesen und eine Ausblutung der freien Theater-Szene.

Als ein durchaus effizientes Instrument der Unterdrückung erwiesen sich die von der Duma neu verabschiedeten Gesetze gegen "Propaganda der homosexuellen Lebensweise", das Schimpfwörter-Verbot oder eben das jüngste Machwerk, ein Gesetz "Über die Beleidigung der Gefühle von Gläubigen". "Keiner weiß, was das für Gefühle sind", konstatiert der Schauspieler Ivan Vyrypajev, Mitbegründer der Theatergruppe "Praktika". "De facto kann jemand sagen: 'Dieser Schrank auf der Bühne verletzt meine religiösen Gefühle!'"

Iwan Wyrypajew: "Freie Theaterszene ist nicht erwünscht"Bild: DW/E. Ibragimowa

"Wir haben immer stärker das Gefühl, dass alle Andersdenkenden vom gesellschaftlichen Dialog ausgeschlossen werden sollen“, sagt Dmitrij Vilenskij vom Künstlerkollektiv "Chto delat?" ("Was tun?"). "Das hat mit Zivilgesellschaft nichts mehr zu tun. Das ist quasi Bürgerkrieg!"

Kulturkampf mit System

Staatliche Kulturpolitik wird in Russland vor allem als Kulturkampf verstanden – und diesen führt man mit System. So wurden in den letzten zwei Jahren zahlreiche Kulturmanager (etwa Theater- und Museumsdirektoren, Festspiel- und Kunsthochschulleiter, Chefredakteure etc.) in den großen wie in den Provinzstädten durch regimetreue "Apparatschiks" besetzt. Die innovationsfreundliche Direktorin der Tretjakow-Galerie Irina Lebedewa muste ihren Posten räumen, und der legendäre Filmpatriarch Naum Kleiman wurde gezwungen, die Leitung des von ihm gegründeten Filmmuseums in Moskau aufzugeben. Er zeige zu viele westliche Filme, hieß es.

Bereits im April 2014 preschte der Kulturminister Wladimir Medinski mit einem Dokument mit dem harmlos klingenden Titel "Vorschläge für ein Projekt zu den Grundlagen der staatlichen Kulturpolitik" vor. In seinem fünfzehnseitigen Text beruft er sich auf einen "einheitlichen kultur-zivilisatorischen Code" der russischen Nation und forderte dazu auf, die "Prämisse westlicher Werte" zu vergessen. Die anonymen Autoren des Dokumentes sind der Meinung, der Staat müsse das Kulturleben steuern: Zum Beispiel keine "unpatriotischen" Filme mehr fördern, die "Russland in den Schmutz ziehen". Dazu zählen dann freilich sämtliche herausragenden russischen Filme der letzten zwei Jahrzehnte – wie etwa "Leviathan" von Andrej Zwjagintsew.

Wladimir Medinski kämpft für "patriotische Kultur"Bild: picture-alliance/dpa
"Leviathan" - eine Parabel über heutiges RusslandBild: Festival de Cannes

"Leviathan" ist eine Geschichte des Niederganges: Der Protagonist, ein Werkstattbesitzer im russischen Norden, wird vom korrupten Bürgermeister verfolgt und von einem liberalen Freund verraten. Der Bürgermeister bekommt für seine Untaten den Segen des örtlichen Kirchenfürsten. Von der Wand seines Arbeitszimmers blickt Putin auf einem Foto milde auf den eskalierenden Horror. Der Film ist mehr als ein sozialkritisches Drama: Er ist eine Parabel, eine Warnung vor dem Monsterstaat, einem Leviathan, der nicht nur auf Hab und Gut der Untertanen Anspruch erhebt, sondern auch wieder auf deren Hirn, deren Familie und deren Seele. Nur hat dabei die staatliche Orthodoxie die ausgediente kommunistische Ideologie der einstigen Sovjetunion ersetzt.

"Keine Kraft auszubrechen"

"Ich muss leider feststellen, dass 90 Prozent meiner Mitbürger die Freiheit nichts bedeutet. Sie lassen sich durch Propaganda verdummen und haben offensichtlich verlernt, eigenständig zu denken", stellt der Schriftsteller Eduard Uspenskij erbittert fest.

Die restlichen 10 Prozent sind tief resigniert. "Was soll ich denn tun? Mein Volk hat sich für dieses Leben entschieden!", sagt der Pop-Star Vasja Oblomov gegenüber der DW. "Hermann Hesse hat es im 'Steppenwolf' beschrieben: So ein Wolf kann zwar in dieser Gesellschaft mit ihren Regeln nicht leben, aber es fehlt ihm an innerer Kraft zum Ausbruch."

Die Autorin Anastassia Boutsko ist Kennerin der Kulturszene in Russland und Deutschland. Sie arbeitet als freie Journalistin in Bonn. Für die Deutsche Welle berichtet sie regelmäßig über Kultur und Kulturpolitik in Russland.

Ihr Text entstand in Kooperation mit der Zeitschrift "Politik und Kultur". In regelmäßigen Abständen wird es weitere Berichte und Filme zur Situation der Kunst und Kultur in ausgewählten Ländern geben. Bei der Deutschen Welle läuft die Reihe in der Kultursendung K.21 unter dem Titel "Art of Freedom. Freedom of Art."

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