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Kein Vergessen im Cyberspace?

15. Dezember 2011

Unbegrenzter Speicherplatz trifft auf leistungsfähige Suchmaschinen. Jede Jugendsünde wird auffindbar. Das Internet als gnadenloses Gedächtnis. Die Frage ist: Lässt sich trotzdem digitales Vergessen organisieren?

Ingenieur im Server-Raum (Foto: shock/Fotolia)
Ort ausgelagerter Erinnerung: InternetserverBild: .shock/Fotolia

Jill Price ist eine kalifornische Schriftstellerin. Ihr wichtigstes Buch beschäftigt sich mit ihr selbst: "Die Frau, die nicht vergessen kann". Die Mittvierzigerin leidet unter ihren extrem präzisen Erinnerungen. Immer wieder muss sie längst Vergangenes neu durchleben. Steuern kann sie diese Erinnerungen nicht. Mit ihrer Krankheit ist Jill Price geradezu ein Sinnbild für das mitunter krankhaft ausgeprägte Gedächtnis des Internets.

Normalerweise geraten Menschen, Dinge und Ereignisse in Vergessenheit. Manchmal ist das schade, manchmal ist das heilsam. "Die Zeit heilt alle Wunden" sagt der Volksmund – und meint damit vor allem das Verblassen leidvoller Erinnerung. In einigen Bereichen gilt sogar ein Recht auf Vergessen. Straftaten werden nach einiger Zeit aus den Akten gelöscht, Schuld verjährt.

Berufsverbot wegen "My-Space" Photo

Die Informationstechnologie hat all das völlig umgekrempelt: Mit immer leistungsfähigeren Festplatten ist Speicherplatz heute in nahezu unbegrenzter Menge verfügbar. In Verbindung mit effektiven Suchmaschinen wird daraus grenzenloses Erinnern. Mit manchmal schwerwiegenden Folgen. Als eine der ersten hat das Stacy Snyder erfahren müssen, in einem weltweit aufsehenerregenden Fall im Jahr 2006: Die junge Frau studierte an der Universität des kleinen Städtchens Millersville im US-Bundesstaat Pennsylvania und wollte Lehrerin werden. Sie hatte ausgezeichnete Noten, alles lief prima. Bis sie ein Bild von sich in einem sozialen Netzwerk veröffentlichte. Es war von einer Halloween Party. Snyder hatte einen Piratenhut auf dem Kopf und einen Becher in der Hand. Sie kommentierte das Photo mit "betrunkener Pirat". Dieses Bild fand den Weg zum Dekan der Universität. Der befand, mit solchen Bildern würde die Studentin Jugendliche zum Trinken animieren. Sie sei damit als Vorbild für Kinder ungeeignet und könne keine Lehrerin werden. Ein Gericht bestätigte später diese Entscheidung.

Inzwischen sind über 800 Millionen Menschen allein im sozialen Netzwerk Facebook aktiv. Sie teilen dort Bilder, Videos, persönliche Informationen aller Art. Personalchefs nutzen bei Bewerbungsverfahren diese Daten routinemäßig um zu entscheiden, wen sie einstellen. Je mehr das Internet alle Lebensbereiche durchdringt, um so mehr Datenspuren hinterlassen die Menschen. Für immer und für alle Zeiten.

Chirurg gegen Google

Weiß jeder bald alles über jeden?Bild: dapd

Das hat auch der spanische Arzt Hugo Daniel Guidotti erfahren. Vor 20 Jahren erschien in der Zeitung "El País" ein Artikel, der den Schönheitschirurgen bis heute verfolgt. Es ging um einen Kunstfehlerprozess. Man erfährt jedoch nichts von dem späteren Freispruch. Zum Problem wurde das erst, als "El Pais" sein Archiv digitalisierte. Seither wirft die Suchmaschine Google den Jahrzehnte alten Artikel weit vorne aus, wenn man den Namen Guidotti eingibt. Das empfindet der als geschäftsschädigend. Guidotti betreibt noch immer eine Klinik für Schönheitsoperationen. Seit Anfang 2011 versucht er vor Gericht durchzusetzen, dass Google nicht mehr auf den "El Pais" Beitrag verlinken darf.

Sollen Suchmaschinen nicht mehr auf alle Inhalte verlinken?Bild: picture alliance/dpa

Dieses Verfahren hat der Diskussion um ein "Recht auf Vergessen im Internet" neuen Auftrieb gegeben. Für die EU hatte sich Justizkommissarin Viviane Reding für ein Recht auf Vergessen im Internet stark gemacht. Im Frühjahr 2012 will sie ihren Vorschlag für eine neue EU-Datenschutz-Richtlinie vorlegen. "Wir brauchen einen Rechtsrahmen für den Datenschutz, der die Konsumenten schützt und die digitale Wirtschaft zum Wachstum anregt" sagte die Justizkommissarin bei einer Veranstaltung vor der amerikanischen Handelskammer in Brüssel im November. Beide Ziele unter einen Hut zu bringen, dürfte schwer werden.

Daten unterscheiden

Dirk Heckmann ist Professor für Internetrecht an der Universität Passau. Im Gespräch mit der Deutschen Welle plädiert er für eine grundsätzliche Unterscheidung bei den gespeicherten Daten. Bei Daten belangloser Art könne man großzügiger verfahren, bei sensiblen Daten müsse man die Datenherrschaft der Betroffenen stärken. Ansonsten, so Heckmann, werde man bei der Unmenge an anfallenden Daten zu keiner handhabbaren Lösung kommen. Noch gilt der Satz des Bundesverfassungsgerichtes, nach dem keine Daten belanglos seien. Geklärt werden muss allerdings die Frage: Wer entscheidet nach welchen Kriterien über den Grad der Schutzbedürftigkeit der Daten? Angesichts der zunehmenden Datenverknüpfungen ist der Passauer Jurist skeptisch, ob echte Datenherrschaft heute noch möglich ist.

Ähnlich äußert sich im Deutsche Welle-Interview der kanadische Internet-Vordenker Rafal Rohozinski. Er hält ein "Recht auf Vergessen" zwar für ein großartiges Prinzip, ist aber skeptisch, was dessen praktische Umsetzung angeht. Schon allein, weil "die Daten in unterschiedlichen Rechtsräumen gespeichert sind. Und selbst wenn so ein Recht in einem Rechtsraum eingeführt wird, kann das nicht garantieren, dass digitale Spuren nicht in anderen Gerichtsbarkeiten gefunden werden können", so Rohozinski.

Verführen zu freigiebigem Umgang mit Daten: Soziale NetzwerkeBild: picture-alliance/dpa



Bert-Jaap Koops von der niederländischen Universität Tilburg möchte deshalb einen anderen Weg einschlagen. Die Daten mögen zwar vorliegen, sollen bei Entscheidungen über Menschen wie bei Einstellungsgesprächen aber keine Rolle spielen dürfen. Ganz ähnlich, wie vor Gericht unrechtmäßig erworbenes Beweismaterial nicht verwendet werden darf. Dieser Vorschlag krankt jedoch an der Frage, ob zum Beispiel Personalchefs das gleiche Abstraktionsvermögen besitzen, wie ausgebildete Richter. Immerhin hätte der "betrunkene Pirat" Stacy Snyder mit dieser Regelung Lehrerin werden können.

Ideenwettbewerb zum digitalen Vergessen


In Deutschland hat das Innenministerium im April einen Ideenwettbewerb zum Thema "Vergessen im Internet" gestartet. Noch bis Ende Januar können Schüler, Studenten, Wissenschaftler oder andere Interessierte ihre Vorschläge zur Organisation des digitalen Vergessens einreichen. Das können technische Vorschläge sein, etwa in der Art eines digitalen Radiergummis oder der Einführung eines "Verfallsdatums" für Daten. Das können Ideen für Gesetze und Regeln sein oder auch Vorschläge, wie man das Bewusstsein der Nutzer für sparsamen Umgang mit ihren Daten schärfen kann. Im Konflikt zwischen Datenschutz und Unternehmensinteressen wird zumindest das ein gangbarer Weg sein: Den Menschen zu zeigen, was mit ihren oft so freigiebig preisgegebenen Daten geschehen kann.

Autor: Matthias von Hein
Redaktion: Bernd Riegert

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