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Kein Zuhause, aber Fußball spielen

Vibeke Fink27. Juni 2015

Acht Mannschaften aus europäischen Ländern messen sich bei der Obdachlosen-EM in Berlin, bei der auch Flüchtlinge, Suchtkranke oder Verarmte mitspielen können. Hier zählt noch der Fair-Play-Gedanke.

European Homeless Cup – Berlin 2015
Bild: DW/V. Fink

Es ist 19.30 vor dem Ambulatorium, einer Halle auf einem ehemaligen Fabrikgelände in Berlin. Gerade sind die Belgier angekommen und zeigen auf dem Vorplatz ihre Jonglierkünste. Beeindruckt findet ein Zuschauer: "Das sieht nach einem klaren Favoriten aus."

Ein Kleinbus fährt vor und entlädt Ocker Beige, die Berliner Mannschaft, eine bunte Truppe von einerseits drahtigen andererseits auch recht wohlbeleibten Spielern, die meisten im besten Alter zwischen 35 und 55. Die Männer im Team: Ole, Ralf, Roger, Stanislaw, Stefan und Kapitän Christian (2 wollen nicht namentlich genannt werden) sind fast alle ohne ein Zuhause.

"Wohnungslos zu werden kann sehr schnell gehen - Verlust des Arbeitsplatzes, ein Partner stirbt, oder ein Kind, eine lange Krankheit - und schon ist man am Rand der Gesellschaft. Das kann sehr einsam werden. Und da kann das Fußballspielen in der Mannschaft wenigstens eine gewisse Normalität zurückgeben", so Sozialarbeiter Andreas Abel.

Er und seine Kollegin Stefanie Seewald betreuen das Fußballprojekt für Wohnungslose von Gangway, dem Streetworker-Verein, der die Organisation des Turniers übernommen hat.

Wer ist mit dabei?

Langsam trudeln die anderen Mannschaften ein und setzen sich an die aufgestellten Tische. Sie vertreten die sieben europäischen Länder Ungarn, Polen, Litauen, Niederlande, Belgien, Österreich und Deutschland - kommen allerdings aus noch mehr Nationen. Der Begriff "homeless" hat im Englischen eine weitreichendere Bedeutung als im Deutschen, an der sich der Ausrichter, der Verein Anstoß!, orientiert. Außer Wohnungslosen und Obdachlosen können auch Asylsuchende, Verarmte sowie ehemalige und aktuelle Suchtkranke teilnehmen.

In Berlin hat man deshalb auch die Champions ohne Grenzen eingeladen - eine reine Flüchtlingsmannschaft, denn Katrin Kretschmer von Anstoß! geht es vor allem um den Austausch - auch international.

"Ursprünglich hatten wir nur das Konzept Homeless-Teams gegeneinander spielen zu lassen. Mittlerweile gibt es in einer Stadt wie Hamburg fast 20 Teams, es wird richtig in Ligen gespielt", erklärt Sozialarbeiter Abel. "Und wir in Kiel werden immer häufiger zu normalen Streetsoccer-Spielen eingeladen - sogar zum Polizei Cup. Oder es spielen Homeless-Teams gegen die Mannschaften von großen Unternehmen."

Wie wird gespielt?

Gespielt wird nach den Regeln des Streetsoccer, wobei diese von den Mannschaften noch individuell abgewandelt werden können. Spieldauer ist 2x7 Minuten auf einem Street Court von 15x10 Meter. Acht Spieler pro Mannschaft sind erlaubt, vier davon auf dem Platz, drei Feldspieler und ein Torwart. Es darf beliebig eingewechselt werden.

Die Gruppenspiele haben nur einen Mediator, falls es doch Streitfragen gibt. Ab dem Halbfinale dann mit Schiedsrichter, in Berlin pfeift ein Sozialrat, Stephan von Dossel. Und es gibt Preise, in Berlin sogar vier richtige Pokale, die auf einem Wagen aufgebaut sind und jetzt während des Essens bewundert werden können.

Die TrophäenBild: DW/V. Fink

Wouter Blockx, Begleiter der belgischen Mannschaft, erzählt allerdings, dass es in Belgien auf Entscheidung der Spieler keine Gewinner bei Turnieren mehr gibt. “Bei uns geht es jetzt mehr um die Atmosphäre. Man möchte seinen Gegner eher kennenlernen, statt über die Alltagsprobleme zu sprechen, lieber drei Tage nur über Fußball reden. Das gibt wieder Energie und Motivation für einen ganzen Monat.“

Am Abend schaffen es einige Mannschaften nach langer Anreise nicht mehr zum Essen. Mit als letzte kommen noch die Österreicher, sechs Spieler zwischen 19 und 25, Asylbewerber aus Somalia und Afghanistan, z.T. mit österreichischen Pässen oder auch nur Aufenthaltsgenehmigungen, Trainer und Begleiter gebürtige Österreicher - ein starkes Team, wie gemunkelt wird. Der Jüngste Mohammed Omar flüchtete mit 15 aus Somalia. Zum Homeless Cup kam er in der ersten Zeit im Asylantenheim, traf dort auch Rohullah, der mit in der Mannschaft ist. Jetzt macht er seinen Hauptschulabschluss und möchte dann eine Lehrstelle als Automechaniker finden. 2014 war er mit dem Nationalteam für Österreich zum Homeless World Cup in Chile und träumt davon, vielleicht doch noch mal halbprofessionell Fußball zu spielen.

Es geht los

Ein sonniger Tag auf dem Breitscheidplatz mitten in Berlin mit vielen Touristen als Zuschauer. Bei den Gruppenspielen kristallisieren sich gleich zwei Favoriten heraus: die beiden jüngsten Mannschaften, die Champions ohne Grenzen und die Österreicher zeigen sich ihren Gegenspielern überlegen, treffen oft und gewinnen jeweils zweistellig. Erste Enttäuschung für die Ocker Beige Heimmannschaft - gleich zwei Niederlagen in den ersten beiden Spielen.

Noch gibt es eine geringe Chance, sich über Fairnesspunkte zu verbessern. Denn jedes Spiel wird von den gegnerischen Mannschaften auf Fair Play hin mit Punkten bewertet. Fairnesspunkte gibt es z.B. dafür, einem gestürzten Gegner wieder hoch zu helfen, oder auch als eindeutig überlegene Mannschaft die anderen nicht in Grund und Boden zu schießen.Ocker Beige hilft das allerdings nicht.

Der Fair-Play-Gedanke zähltBild: DW/V. Fink

Nach der Mittagspause dann das Ausspielen der Plätze - und eine Überraschung: die Champions ohne Grenzen scheitern an ihrem Gegner Litauen. Im Finale sind nun Litauen und Österreich. Die Berliner Ocker spielen um Platz fünf.

Die wahren Gewinner

Und dann kommt, was dieses Turnier sehr besonders macht. Belgier und Niederländer kommen um die letzten beiden Plätze auszuspielen - und beginnen ihre Trikots zu tauschen. Doch nicht nur das, sie tauschen auch Spieler untereinander - kein Feststellen mehr, wer zu welcher Mannschaft gehört - allenfalls der Eindruck, dass manche Spieler nun doch ein wenig ob ihrer Fülle eingezwängt sind. Was folgt, ist ein Spaßspiel mit viel Freude und einem salomonischen Unentschieden. Scheinbar doch eine gute Entscheidung, in Belgien auf Gewinner zu verzichten!

Derweil sind Ole und Christian, der Kapitän von Ocker Beige, mehr als frustriert. Gegen die Niederlande hatten sie gewonnen, die erste Hälfte gegen Ungarn lief bestens und nun geht gar nichts mehr. Falsch eingewechselt, strittige Entscheidungen... Und es sollte eigentlich nicht wichtig sein, aber als Heimmannschaft war da doch wohl der verständliche Wunsch, besser abzuschneiden. Es bleibt beim sechsten Platz.

Intermezzo

Die afghanischen Spieler der österreichischen Mannschaft haben entdeckt, dass unter den Spielern der Flüchtlingsmannschaft Champions ohne Grenzen ebenfalls mehrere afghanische Landsleute sind und dass Freunde von diesen wiederum Trommeln mitgebracht haben. Es folgt ein begeistertes Singen, Tanzen und Jubeln von Niederländern, Belgiern, afghanischen Österreichern und vielen anderen. Für einen Moment wirkt es wie eine große internationale Familie.

Allerdings stehen noch zwei Spiele an und das Finale. Und das bringt eine Überraschung für die meisten Zuschauer.

Das Finale

Sie versuchen es, versuchen es wirklich, die jungen Spieler der österreichischen Mannschaft, und doch heißt es am Ende: Der Gewinner ist Litauen. Sie waren mit nur fünf Spielern angereist: Zanas, Stas, Deima, Mantas, Kaius und Marius, der in allen Spielen als Torwart beeindruckte. Drei von ihnen sind über 50, einer 43, die beiden anderen jünger. Und sie sind nicht wohnungslos, sondern ehemalige Alkoholkranke. Und dann kommt die Erklärung - sie sind alte Hasen, haben bis auf den jüngsten alle leistungsmäßig Fußball gespielt, Mantas sogar in der litauischen Jugendnationalmannschaft U21 - bis der Alkohol kam. Jetzt spielen sie wieder. "Fast alles", wie Zanas, ein arbeitsloser, studierter Jurist sagt, "Futsal, Streetsoccer, z.T. auch im Homeless Nationalteam." Und sie haben erfolgreich gezeigt, was Erfahrung und Routine letztendlich ausmachen können.

Die Sieger aus LitauenBild: DW/V. Fink

So überreicht schließlich der deutsche Schauspieler, Filmproduzent und Regisseur Detlev Buck in einer herzlichen und sehr gelösten Atmosphäre der an Jahren wohl ältesten Mannschaft den Siegerpokal. Europameister im Homeless Cup: Litauen. Zweiter wird die österreichische Mannschaft und Dritter Polen, eine gemischte Männer- und Frauenmannschaft.

Und der Fairness-Pokal geht an wen wohl? An die Belgier.