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Kein Zutritt ins Winterwunderland

Felicitas Wilke
15. Januar 2021

Der Winter zeigt sich mitten in der Corona-Pandemie von seiner schönsten Seite und lockt massenweise Tagestouristen in die Berge. Spannungen und Frust sind das Ergebnis.

Deutschland Coronavirus Winter Schnee Sperrungen
Bild: Sven Hoppe/dpa/picture alliance

Es ist Sonntag am Schliersee, in Bayern. Es ist die Ruhe vor der verordneten Ruhe: Am nächsten Tag, dem 11. Januar, wird die von der Bundesregierung beschlossene 15-Kilometer Regelung in Kraft treten. Bewohner aus Regionen mit hohen Corona-Fallzahlen dürfen sich dann nicht mehr als 15 Kilometer von ihrem Wohnort entfernen.

Der Parkplatz am Nordufer ist zur Mittagszeit höchstens zur Hälfte gefüllt. Am See drehen ein paar Spaziergänger ihre Runden, zwischendurch kommt mal ein Jogger vorbei. Der Eindruck passt so gar nicht zu den Schlagzeilen, die das Bayerische Oberland, zu dem der Schliersee gehört, aber auch Mittelgebirge wie das Sauerland oder der Harz in den vergangenen Wochen gemacht haben. In Deutschland liegt Schnee, es ist seit vielen Jahren mal wieder richtiger Winter. Die weiße Pracht löste allerorten einen Massenansturm aus, Tagestouristen strömten in die Berge. Auch wenn überall im Land die Skilifte wegen Corona stillstehen, es bleibt ja noch die Landschaft.

Der Schnee zieht die Menschen magisch  an

Das Bayerische Oberland mit seinen Seen und Bergen ist bei Touristen immer beliebt, Sommer wie Winter. Für die Münchner ist es ein klassisches Tagesausflugsziel, wenn sie mal raus aus ihrer Stadt wollen. Während der Corona-Krise ist das allerdings ein Problem:  Von "Chaos" war da die Rede, von zugestauten Straßen, überfüllten Parkplätzen, überlaufenen Rodelhängen und Wildpinklern. Im Bayerischen Oberland lagen bald die Nerven blank, ein Unbekannter hängte gar eine Hassbotschaft an die ungeliebten Gäste aus München auf, die seiner Ansicht nach "lupenreine Idis" seien.

Als gäbe es keine Corona-Pandemie: Ausflügler auf dem zugefrorenen SpitzingseeBild: Matthias Balk/dpa/picture alliance

Was um den Jahreswechsel begann, dauerte noch bis weit in den Januar hinein. Die Gemeinden derart von Touristenmassen überrumpelt, halfen sich mit verstärkten Polizeikontrollen und Absperrungen, wo es ging. Aber es half nichts, die Menschen zog der Schnee weiter magisch an.

Zustände wie im Bayerischen Oberland und anderswo waren ein Grund dafür, weshalb sich Bund und Länder in der ersten Januarwoche auf strengere Anti-Corona-Regeln einigten. Zu Kontaktbeschränkungen, Mindestabstand und Hygieneregeln kam als neue Maßnahme die 15 Kilometer-Regel ins Spiel: Der Bewegungsradius wird auf 15 Kilometer vom Wohnort beschränkt,  sobald der Inzidenzwert dort 200 erreicht. Auf Schnee muss im Ernstfall verzichtet werden.

Nicht die Menschen sind das Problem

Es ist ein trauriges Paradox. Der Schnee ist da und keiner kann ihn nutzen. Nicht die Menschen und auch nicht die Skiliftbetreiber, Hoteliers und Restaurants. Tourismus ist derzeit nicht möglich, ja wegen der Ansteckungsgefahr sogar gefährlich: Spricht man in diesen Tagen im Voralpenland mit Menschen, die ihr Geld mit Gästen verdienen, zeigt sich, wie verzwickt die Lage ist.

Traurige Realität: Wie in diesem Lokal am Tegernsee herrscht überall gähnende Leere Bild: Steffi Adam/Geisler-Fotopress/picture alliance

Gäste sind willkommen, theoretisch. "Der Zulauf war nicht das Problem, der war nicht größer als sonst", sagt Harald Gmeiner, Vorstand des Tourismusverbands Alpenregion Tegernsee Schliersee. "Wir sind sonst immer froh um viele Gäste und sie auch gewohnt, nur herrscht normalerweise auch keine Pandemie." Die Kliniken bräuchten ihre Kapazitäten gerade für Covid-Patienten und nicht für verunglückte Schlittenfahrer.

Das Problem sind nicht die vielen Menschen, die Infrastruktur fehlt, sie ist wegen Corona schlichtweg nicht vorhanden. Wenn Skilifte nicht in Betrieb sind, Toiletten geschlossen haben, Parkeinweiser fehlen und Gastronomiebetriebe nicht öffnen dürfen, dann ist der Tourismus nicht organisiert und die Tagesausflügler helfen sich selbst - manche zum Schaden aller. "Ungefähr zehn Prozent verhalten sich daneben und lassen ihren Müll liegen", sagt Gmeiner. Es war eine sehr präsente Minderheit in den vergangenen Wochen. Im Oberland zog insbesondere der größtenteils zugefrorene Spitzingsee zehn Kilometer südlich vom Schliersee die Massen an.

Die Wintersaison fällt aus: In ganz Deutschland stehen die Skilifte stillBild: Armin Weigel/dpa/picture alliance

Perfekte Wintersportbedingungen, Einnahmen gleich Null

Nach vielen Jahren ohne Schnee beschert ausgerechnet der Corona-Winter 2021 ideale Wintersportbedingungen. Und niemand hat etwas davon. Am allerwenigsten die, die sonst mit am Schnee verdienen. Aktuelle Zahlen des Statistischen Bundesamts zeigen, dass die Zahl der Übernachtungen in Hotels und anderen Unterkünften im November 2020 im Vergleich zum Vorjahresmonat um mehr als 72 Prozent gesunken ist. Darunter leidet Bayern besonders: Das Bundesland ist die mit Abstand beliebteste Urlaubsregion in Deutschland, noch im Jahr 2019 zählten die Hoteliers und Gastwirte dort mehr als 100 Millionen Übernachtungen. Auch im Winter, wenn insbesondere die Skigebiete in den deutsch-österreichischen Grenzregionen die Besucher anziehen.

Nicht aber in diesen Wochen: In Deutschland stehen die Gondeln und Lifte wegen der Pandemie still - im Gegensatz zu Österreich, wo Hotels zwar geschlossen sind, aber Skigebiete seit Weihnachten öffnen dürfen. Davon kann Egid Stadler nur träumen. Er konnte in dieser Saison seine Lifte noch kein einziges Mal für Touristen anwerfen, dennoch hatte er zuletzt einiges zu organisieren. Für den Parkplatz vor dem Skigebiet engagierte er Parkeinweiser, öffnete die Toiletten und erhob im Gegenzug anders als sonst eine Parkgebühr in Höhe von fünf Euro. Der Grund: "Der Parkplatz vor dem Skigebiet war voll, nicht nur an den Wochenenden. Teilweise waren 1000 Leute da, von der schlittenfahrenden Familie bis zum Tourengeher." Egid Stadler wurde vom Skiliftbetreiber zum Krisenmanager.

Für Skiliftbetreiber Egid Stadler in Bayrischzell ist die Lage ernst, die Hoffnung gibt er dennoch nicht auf

Stadler sitzt in seinem Büro im Rathaus von Bayrischzell. An das wenige Kilometer entfernte Skigebiet am Sudelfeld, das er betreibt, erinnert an diesem Dienstag nur der Bildschirm-Hintergrund auf seinem PC. Da ist sie zu sehen, die Bergstation der Waldkopfbahn, eingeschneit in 1254 Metern Höhe. Das Skigebiet ist ein frei zugängliches Stück Natur, man darf dort auch Sport machen, wenn die Lifte nicht fahren. Und das tun die Menschen, nur hat Egid Stadler dann nichts davon.

Die Unbedarftheit der Menschen irritiert

Der Skiliftbetreiber gehört zu den Menschen, die Corona besonders hart trifft: Er hat seit zehn Monaten praktisch keine Einnahmen; den Betrag, den er im Vorverkauf für die Saisonkarten eingenommen hat, wird er zurückzahlen müssen. Wenn es weiter so gehe, wenn die Staatshilfen nicht bald in voller Höhe ankommen, dann drohe irgendwann die Zahlungsunfähigkeit, sagt er. Trotzdem sieht Stadler die Ereignisse der vergangenen Wochen differenziert: Er sagt, er verstehe jeden, den es während der Pandemie in die Natur dränge. Gleichzeitig habe ihn irritiert, wie größere Gruppen meist ohne Maske und Abstand sein Skigebiet geentert hätten. "Das war eine Unbedarftheit, die ich angesichts der Pandemie fast unwirklich fand", sagt Stadler.

Schnee und Sonne locken: Geschlossene Lifte sind kein Hindernis für SkitourengeherBild: Tobias Hase/dpa/picture alliance

In der Region um Bayrischzell hat man kurz nach Inkrafttreten des 15-Kilometer-Banns die Regeln noch einmal verschärft. Seit 14. Januar gilt hier eine Allgemeinverfügung, wonach unabhängig vom Inzidenzwert generell keine Ausflügler mehr in die Region kommen dürfen. Auch andere bayerische Ferienregionen, etwa im Bayerischen Wald, sperren Tagestouristen bis auf Weiteres aus. Wer dennoch kommt, dem droht ein Bußgeld. Den Bewegungsradius hält Stadler für die richtige Lösung, die Maßnahme zeigt Wirkung, sagt Stadler. "Seit gestern ist fast nichts mehr los."

Unter Fachleuten sind die neuen Regelungen durchaus umstritten. Die Virologin Ulrike Protzer gab kürzlich zu bedenken, dass der Bewegungsradius zu einer Verlagerung des Problems führen könnte - und zwar vom Land in die Städte, wo sich dann in den Parks und Grünanlagen möglicherweise umso mehr Menschen tummelten. Sie sprach sich für einzelne Zugangsbeschränkungen an besonders überfüllten Orten aus. Der Virologe Oliver Keppler kam zu der Einschätzung, das Ansteckungsrisiko draußen liege bei "praktisch null", wenn man Abstand halte und einen Mund-Nasen-Schutz trage. Das allerdings war in vielen Ausflugsregionen zuletzt ganz offensichtlich nicht der Fall.

Die Pandemie zeigt dem Tourismus Grenzen auf

Die vergangenen Wochen haben ein Problem aufgezeigt, das auch in Nicht-Pandemiezeiten immer deutlicher zum Vorschein tritt. Mancherorts nimmt der (Tages-)Tourismus eine Dimension an, unter der Einheimische wie Natur leiden. "Der Trend zum Outdoor- und Wandertourismus bewirkt, dass einige Regionen schon vor der Pandemie an ihre Tragfähigkeitsgrenze kamen", sagt Jürgen Schmude, Tourismusforscher an der LMU in München. Viele Destinationen hätten in den vergangenen Jahren vor allem Wert auf Quantität gelegt - also auf immer mehr Touristen. 

Der Bewegungsradius zeigt Wirkung: Die Einheimischen haben ihre Landschaft wieder für sichBild: Katrin Requadt/dpa/picture alliance

Damit sich die Tagestouristen besser verteilen, sollen künftig auf einer digitalen Plattform unterschiedliche Werte einlaufen: historische Daten, die zeigen, wie viel an bestimmten Wochentagen zu welcher Uhrzeit üblicherweise in der Gegend los ist, Echtzeitdaten zur aktuellen Lage und Sensordaten von Parkplätzen. Auf deren Basis können sie ihre Pläne für den Tag überdenken. "Wer morgens in München zum Beispiel sieht, dass am Spitzingsee schon alle Parkplätze voll sind, nimmt stattdessen vielleicht doch den Zug zum Schliersee", sagt Gmeiner.

Doch jetzt ist erstmal Lockdown, während in Bayrischzell der Schnee leise rieselt. Egid Stadler schaut wehmütig aus dem Fenster. "Das tut schon brutal weh, es wäre so eine schöne Saison geworden." So ganz mag er die Hoffnung nicht aufgeben, dass die Infektionszahlen sinken und er die Skilifte doch noch mal anwerfen kann. Vielleicht im März, sagt er, "20 Prozent Hoffnung hab' ich noch."

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