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Keine Diktatur und keine Demokratie

2. März 2004

- Russische Nichtregierungsorganisationen zum politischen System unter Putin und zur Präsidentenwahl

Bonn, 2.3.2004, DW-RADIO, Ute Schaeffer

Dem von Präsident Wladimir Putin geprägten politischen System in Russland hat man unterschiedliche Namen gegeben. Es handele sich um eine Pseudodemokratie, um eine "Gelenkte Demokratie" oder - nach einem von Putin selbst geprägten Begriff - um die "Diktatur des Gesetzes". Doch was verbirgt sich hinter solch konstruierten Begriffen, für die es in Westeuropa kaum Analogien gibt? Auch russische Nichtregierungsorganisationen tun sich schwer, wenn sie das in Putins erster Amtszeit als Präsident geschaffene politische System beurteilen sollen. Bei einem Treffen dieser Tage in der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin betonten deren Vertreter: "Russland ist keine Demokratie, soviel ist sicher. Aber wer meint, dass in Russland eine Diktatur herrsche, der hat ebenfalls Unrecht." In jedem Fall baute Putin in den vergangenen vier Jahren den Präsidialstaat weiter aus - mit vielen autoritären Strukturen und sowjetischen Anleihen. Was diesen Präsidialstaat à la Putin von der sowjetischen Diktatur unterscheidet, ist vor allem das Fehlen einer allgemeinverbindlichen staatlichen Ideologie. Ute Schaeffer mit weiteren Informationen:

Regelmäßig bestellt der Präsident auch die Nichtregierungsorganisationen, von denen es in Russland 40 000 bis 70 000 aktive geben soll, in den Kreml. Als "Berater bei Hofe" fühlen sie sich durchaus gehört - doch politische Entscheidungen beeinflussen sie kaum. Mit Sorge verfolgen die Nichtregierungsorganisationen allerdings den Wahlkampf zur Präsidentenwahl Mitte März. Jelena Schemkowa, Mitbegründerin von "Memorial":

"Wir sehen, wie der Wahlprozess mannigfaltig manipuliert wird. Es geht nicht nur um die konkreten Verstöße gegen das Gesetz während einer Wahlkampagne auf regionaler und auf nationaler Ebene. Oder um die direkt am Wahltag genutzten so genannten 'administrativen Ressourcen'. Das ist ein wichtiges und großes Problem. Das, was wir zurzeit beobachten, ist eine Folge daraus, dass das Recht auf freie und unabhängige Wahlen grundsätzlich nicht respektiert wird. Eine Konsequenz ist auch der heutige schlechte Zustand des Parlaments. Sie wissen alle, dass es jetzt in Russland nur eine virtuelle Regierung gibt."

Wie gering das politische Gewicht der Regierungsmannschaft unter Putin ist, zeigte sich vor wenigen Tagen, als der Präsident kurzerhand die Regierung Kassjanow entließ. Das war eine klare Machtdemonstration des Präsidenten mit Blick auf die Wahl Mitte März. Seit der Dumawahl verfügen die Kreml-nahen Parteien im russischen Parlament zudem über eine komfortable Mehrheit, mit der sich die Verfassung ändern lässt. Die demokratischen Parteien hingegen sind auf gerade einmal sechs Abgeordnete zusammengeschrumpft. Eine besorgniserregende Entwicklung, findet Schemkowa:

"Die Partei 'Einiges Russland' verfügt in unserem Parlament über eine Mehrheit, welche die Verfassung ändern kann. Das ist erschreckend, denn es gibt bereits Versuche, die auf eine Verfassungsänderung abzielen. Natürlich sagt auch unser Präsident 'Nein, nein, es wird keine Veränderungen in der Verfassung geben. Die Verfassung ist heilig!' Trotzdem gibt es solche Vorstöße. Unser Parlament arbeitet wie eine Sekretärin der Regierung. Die Gesetze werden in der Regierung vorbereitet und das Parlament winkt sie dann durch. Das ist sehr gefährlich. Es verschwindet eine Art Filter - eine Funktion, die früher die beiden demokratischen Parteien ausgeübt haben. Die hat die Gesetze nicht nur korrigiert, sondern auch wichtige Verbesserungen am Gesetz eingebracht. Nun ist völlig unklar, wer diese Aufgabe übernimmt."

Gezielt hat Putin in seiner ersten Amtszeit die politische Institutionen geschwächt. Politik und Gesellschaft werden heute wieder zunehmend von der Machtzentrale im Kreml gesteuert. Politischen Ambitionen und Kritikern trat der Kreml mit aller Macht entgegen. Zum Beispiel missliebigen Oligarchen, die aus ihren abweichenden Positionen zum Kreml keinen Hehl machten. So wurde Ende des vergangenen Jahres Jukos-Chef Michail Chodorkowskij verhaftet. Er hatte seine eigenen politischen Ambitionen öffentlich deutlich gemacht und unter anderem die Opposition finanziert.

(Schemkowa) "Der nächste Schritt ist das Business gewesen, dass sich von vorneherein frei und unabhängig gezeigt hat. In dieser Hinsicht ist Chodorkowskij nur ein Beispiel. Es ist völlig egal, wie der Mensch heißt. Die Hauptsache ist, dass er versucht hat, verschiedene soziale Programme durchzuführen. Die Hauptsache ist, dass das Business eigene soziale Programme durchgeführt hat. Und er hat sehr wichtige und interessante Programme für die Jugendlichen entwickeln lassen. Das ist der Grund, warum dieses Business von den Machthabern verfolgt wurde."

Auch die Medien hatten unter Putin keinen leichten Stand. Unabhängige Medien gerieten unter Druck und wurden geschlossen. Im April 2001 wurden der Fernsehsender NTW und die zum Gussinskij-Konzern gehörenden Zeitungen vom halbstaatlichen Konzern Gasprom übernommen und auf Linie gebracht. Am 22. Januar 2003 musste der letzte landesweit ausstrahlende Fernsehsender TW6 schließen. Chefredakteur Jewgenij Kisseljow sprach von einem "Auftragsmord". Im Februar 2003 stellte die Zeitung "Nowyje Iswestija" ihre Arbeit ein.

Neuere Gesetze schränken die Berichterstattung bei Wahlen und bei Anti-Terror-Operationen ein. Dieses Vorgehen komme einem Berufsverbot für Journalisten gleich, meinen Beobachter.

(Schemkowa) "Es wäre unrichtig zu sagen, dass es in Russland keine Medienfreiheit gibt. Es gibt einige Radiosender und Zeitungen, die sich offen äußern können. Aber diese sind nicht in ganz Russland verbreitet und die Frage ist, wer hört diese Medien? Russland ist ein riesiges Land und die einzige Möglichkeit, jeden einzelnen Bürger zu erreichen und diese Pressefreiheit zu erhalten, sind das Fernsehen und die elektronischen Medien. Und die existieren nicht. Deshalb ist auch unsere Haltung zu diesem Problem eher unbekannt. Es gibt also Pressefreiheit in Russland, aber nur wenige kennen diese unabhängige Presse und nutzen sie." (TS)