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Keine Lust auf Revolution

Marc Koch, Santiago de Chile15. Dezember 2013

Die Chilenen wählen ein neues Staatsoberhaupt. Nur wenige scheinen sich jedoch für die Wahl zu interessieren. Dabei entscheidet sich bei der Stichwahl am Sonntag, wie die Zukunft des Landes langfristig aussehen soll.

Ein Mann schiebt sein Fahrrad an chilenischer Wahlwerbung vorbei. (Foto: REUTERS/Eliseo Fernandez)
Wahlplakat der Präsidentschaftskandidatin Evelyn MattheiBild: REUTERS

Gesprächsthemen haben die Chilenen gerade viele: Weihnachten steht vor der Tür, die großen Ferien beginnen, die letzten Vorbereitungen für den Sommerurlaub müssen getroffen werden. Und, natürlich, die Fußball-Weltmeisterschaft im kommenden Jahr, bei der Chile in einer Supergruppe gegen Spanien und die Niederlande spielen muss. Nur über ein Thema wird kaum gesprochen: Die Stichwahlen zum Präsidentenamt.

Welche Gesellschaft will Chile? "Das interessiert einfach nicht", stellt der Ökonom und Analyst Cristóbal Huneeus aus Santiago etwas bekümmert fest. Vielleicht gab es zu viel Wahlkampf, zu viele Kampagnen, zu viel Getrommel. Vielleicht ist es auch die neue Freiheit der Chilenen, nicht wählen zu müssen: Die Wahlpflicht ist erst vor Kurzem abgeschafft worden. Bei der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen im November lag die Beteiligung bei 49 Prozent.

Dabei ist es eine Abstimmung, die entscheidend sein wird für die Zukunft des Landes: "Bei dieser Wahl geht es darum, welche Gesellschaft wir wollen", sagt der Soziologe Eugenio Tironi. Dafür stehen die beiden Kandidatinnen, die es in die Stichwahl geschaft haben.

Wahlkampf pur: Bereits Anfang November gingen die Chilenen an die Urnen - nun steht die Stichwahl anBild: picture-alliance/dpa

Die Konservative Evelyn Matthei will ein paar Veränderungen, aber an der grundsätzlichen Richtung nichts ändern. Ihre Gegnerin und ehemalige Schulfreundin, die Sozialistin Michelle Bachelet, will dagegen tief in die Strukturen des Staates eingreifen: Nur mit massiven Reformen könne die Zukunft gesichert werden. Beispielsweise will Bachelet die Gebühren an Schulen und Universitäten abschaffen, Matthei dagegen will daran festhalten und lieber mehr Stipendien an Bedürftige vergeben.

Der Fahrplan für die Reformen steht

Sollte Bachelet die Stichwahl gewinnen, werde sie "ganz sicher mit einer Steuerreform beginnen, um danach tiefgreifendere Maßnahmen zu finanzieren und das Defizit abzubauen", skizziert Cristóbal Huneeus das Panorama. Danach komme die Bildungsreform, um Chancengleichheit und eine qualitätvolle Erziehung für alle gewähren zu können. "Die Verfassungsreform wird das Schwierigste, weil Bachelets Partei nicht genügend Stimmen im Parlament hat. Sie muss also mit der künftigen Opposition verhandeln", so Huneeus .

Dass Michelle Bachelet die Wahlen gewinnt, scheint so gut wie sicher: Sie kann sich auf viele Stimmen aus dem Lager derer, die in der ersten Runde ausgeschieden sind, verlassen. Evelyn Matthei dagegen hat mit den durchaus beachtlichen 25 Prozent ihr Potenzial weitgehend ausgeschöpft.

Trotzdem kämpfen die Konservativen bis zum Schluss: Beim letzten TV-Duell der beiden Kandidatinnen am vergangenen Dienstag konnte Matthei die große Favoritin das ein oder andere Mal durchaus in die Enge treiben, mit glänzender Vorbereitung und knallharten Fakten punkten.

Die konservative Kandidatin Evelyn Matthei (links) und Favoritin Michelle Bachelet vor dem finalen TV-DuellBild: picture-alliance/dpa

"Mir hat gefallen, dass sie auf die Fragen ganz konkrete Antworten gibt. Keine Ausweichmanöver, keine Studien- oder Kommissionsergebnisse, sondern klare und reale Maßnahmen", lobt eine Anhängerin von Evelyn Matthei. Die linke Kandidatin Bachelet erklärte im TV-Duell hingegen kaum, wie sie ihre grundlegenden Reformen von Bildungs-, Steuer- und Verfassungssystem finanzieren will, registrierten neutrale Beobachter. Dennoch wird das wohl nichts an Bachelets großem Vorsprung ändern.

Bachelet hat Erfahrung mit Protesten

Wirtschaftsverbände sorgen sich angesichts des bevorstehenden Wahlsieges der linken Bachelet um das Investitionsklima und befürchten einen zu starken Linksruck. Gleichzeitig drohen die Reformbefürworter mit neuem Druck von der Straße, sollten ihre Forderungen nicht schnell genug erfüllt werden: Dabei geht es um kostenlose und anspruchsvolle Bildung für alle, Umverteilung des Reichtums und mehr staatliche Sozialleistungen.

Im Umgang mit solchen Forderungen hat Michelle Bachelet eindeutig mehr Erfahrung, erklärt Analyst Huneeus: "Sie war schon einmal Präsidentin, und damals gab es auch soziale Proteste. Denen hat sie sich gestellt. Ganz gleich, ob sie das gut oder schlecht gemacht hat - sie hat ihre Lektion gelernt. Deswegen wird sie dieses Mal besser damit umgehen können."

Selbst viele Chilenen, die vom Wirtschaftsboom der letzten Jahre profitiert haben und unter der aktuellen konservativen Regierung zu bescheidenem, aber für Lateinamerika beachtlichem Wohlstand gekommen sind, haben große Sympathien für die charismatische Linke Michelle Bachelet; der amtierende Präsident Sebastián Piñera gilt ihnen zu sehr als kalter und knallharter Geschäftsmann. Ob sie daraus auch zählbare Wählerstimmen machen, ist aber ungewiss: So sicher scheint Bachelets Sieg, dass ihre Anhänger nur noch schwer zu motivieren sind.

Genau das könnte zu einem Problem werden für die große Reformerin Bachelet und ihre Projekte: Mit einer Mehrheit zu gewinnen, die zwar rechnerisch stimmt, symbolisch aber niemanden überzeugt.

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