Kevin Kühnerts Rücktritt: Ein Schlag für die SPD
7. Oktober 2024Nur wenige waren eingeweiht, für die meisten Sozialdemokraten war es eine Überraschung: Kevin Kühnert, seit Dezember 2021 Generalsekretär der SPD, hat seinen Rücktritt erklärt und auch bekannt gegeben, dass er 2025 nicht erneut für den Bundestag kandidieren wird.
In einem Brief an Parteimitglieder, der auch an die Presse verschickt wurde, begründete der 35-jährige Berliner seinen Schritt damit, dass er nicht gesund sei. "Für einen Wahlsieg braucht es den vollen Einsatz der gesamten SPD." In den nächsten Monaten seien "enorme Kraftanstrengungen" nötig, "um einen Rückstand aufzuholen, der sich gleichermaßen in niedrigen Umfragewerten und niedrigem Selbstbewusstsein ausdrückt".
Die Erwartungen seien riesig, er könne dem aber nicht gerecht werden. "Die Energie, die für mein Amt und einen Wahlkampf nötig ist, brauche ich auf absehbare Zeit, um wieder gesund zu werden. Deshalb ziehe ich die Konsequenzen."
Kühnert: Seit Monaten unter enormem Druck
An welcher Krankheit er leidet und wie gravierend sie ist, teilte Kühnert nicht mit. Doch der SPD-Generalsekretär stand seit Monaten politisch unter Druck. Die Umfragewerte der SPD liegen im Bund bei gerade einmal 16 Prozent. Bei den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen schnitt die SPD historisch schlecht ab, musste sogar um den Wiedereinzug in die Landesparlamente zittern. Nur in Brandenburg gelang der Partei eine unerwartete Aufholjagd.
Als die beiden Grünen-Vorsitzenden Ricarda Lang und Omid Nouripour nach der Landtagswahl in Brandenburg zurücktraten, wurde Kühnert mehrfach mit der Frage konfrontiert, ob er nicht auch Verantwortung für die Wahlergebnisse übernehmen wolle. Kühnert antwortete darauf mehrfach, dass er sich die Frage auch stelle und zu einem Rückzug bereit sei, wenn dies der SPD helfen würde. Er verwies aber auch darauf, dass die SPD-Vorsitzenden Lars Klingbeil und Saskia Esken mit ihm zusammen ein "eingespieltes Team" seien, "das an einem Strang zieht und gemeinsame Entscheidungen trifft", wie Kühnert gerade erst in einem Interview mit dem Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" sagte.
Enge Freundschaft mit Parteichefs Klingbeil und Esken
Kühnert hatte Klingbeil und Esken bereits vor ein paar Tagen über seine Rücktrittsabsichten informiert. Beide reagierten mit Bestürzung, aber auch Verständnis und ausdrücklich Respekt. Er wisse, dass Kühnert die Entscheidung nicht leichtgefallen sei, so Klingbeil am Montag in Berlin, der Schritt sei aber richtig. "Es geht jetzt um Kevin und es geht um seine Gesundheit." Als sein enger Freund biete er "die hundertprozentige Unterstützung" an, "bei dem Weg, der jetzt vor ihm liegt, den wir gemeinsam mit ihm auch gehen werden".
Beide Parteivorsitzende würdigten die Arbeit Kühnerts als Generalsekretär. Er habe entscheidend zur Stabilität in der SPD beigetragen, sagte Klingbeil. Von einer "wichtigen Stütze für unsere sozialdemokratische Partei" sprach Esken. Sie verwies ebenfalls auf ihre enge Zusammenarbeit mit Kühnert, auch bei "meinem Weg an die Parteispitze".
Juso-Chef Kühnert: Meinungsstark und links
Kevin Kühnert war seit November 2017 Vorsitzender der Jungsozialisten, die sich bei ihrer Kandidatur für die SPD-Parteispitze maßgeblich für Esken eingesetzt hatten. 2019 war sie mit ihrem damaligen Parteivorsitzpartner Norbert Walter-Borjans im innerparteilichen Wettstreit unter anderem gegen den jetzigen Bundeskanzler Olaf Scholz angetreten. Die Jusos hatten die beiden unterstützt, weil sie die SPD nach jahrelangen parteiinternen Querelen politisch wieder mehr nach links rücken wollten.
Kühnert, der dem linken Flügel der SPD zugerechnet wird, hatte zuvor alles dafür getan, eine erneute sogenannte GroKo, eine große Koalition seiner Partei mit der CDU/CSU, zu verhindern.
Genossen äußern Verständnis: "Wir kämpfen jeden Tag"
Esken sprach von Kühnert als Freund, mit dem sie "sehr eng und sehr vertrauensvoll" zusammengearbeitet habe. "Ich wünsche Kevin Kühnert jetzt die notwendige Ruhe, damit er wieder gesund werden kann." Krankheit sei Privatsache, so Esken mahnend in ihrem Pressestatement. "Deshalb will ich Sie von Herzen bitten, ihm jetzt auch den Raum und die Zeit zu geben, dass er gesund werden kann."
Auch Klingbeil ging nicht konkret auf Kühnerts Erkrankung ein. Er sprach aber von den Strapazen, die Politik mit sich bringe. "Wir alle wissen, wie fordernd das politische Geschäft, wie anstrengend es ist. Wir sind jeden Tag für die Sozialdemokratie unterwegs, wir kämpfen jeden Tag und wir stecken viel Engagement und Leidenschaft in unsere Jobs, auch in Zeiten, in denen wir viel Gegenwind bekommen."
Respekt und Bedauern in vielen politischen Lagern
Der scheidende Grünen-Vorsitzende Omid Nouripour wünschte Kühnert im Namen seiner Partei vollständige Genesung und bedankte sich für die "vertrauensvolle Zusammenarbeit" in den vergangenen drei Jahren. "Der politische Betrieb kann ein hässlicher Raubbau sein", kommentierte die FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann auf dem Kurznachrichtendienst X. "Egal, was einen politisch trennt - wenn es um die Gesundheit geht, wird fast alles zweitrangig. Ich wünsche Kevin Kühnert von Herzen alles Gute und eine vollständige Genesung."
CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann sagte der Zeitung "Rheinische Post", er habe "Kevin Kühnert als verdammt ehrlichen Kollegen kennengelernt. Die Zusammenarbeit war trotz politischer Differenzen immer verlässlich und vertrauensvoll." Doch Gesundheit müsse immer vorgehen.
Matthias Miersch tritt Kühnerts Nachfolge an
Noch am Montagabend tagten die SPD-Parteigremien und einigten sich darauf, dass Matthias Miersch Nachfolger von Kevin Kühnert werden soll. Der 55-jährige Bundestagsabgeordnete, der Vize der SPD-Fraktion im Bundestag ist, gehört wie Kühnert zu den Parteilinken in der SPD. Er wird das Amt des Generalsekretärs zunächst kommissarisch übernehmen. Gewählt werden kann er erst auf dem nächsten SPD-Parteitag, der nach derzeitigem Stand für Juni 2025 geplant ist.
Auf Miersch kommen enorme Anforderungen zu. Ein Generalsekretär ist so etwas wie der Geschäftsführer einer Partei. Inhaltlich muss er in allen politischen Themen debattenfest sein und das Profil der Partei vertreten, das gehört zur Jobbeschreibung. Gleichzeitig hat der Generalsekretär aber auch verwaltende Aufgaben. Er oder sie leitet die Parteizentrale, organisiert die Parteitage und die Wahlkämpfe.
Mit Blick auf die Bundestagswahl im September 2025 bleibt nicht mehr viel Zeit. Die Ausgangslage ist kritisch: Die SPD steckt schon lange in einem Umfragetief. Die größte Oppositionsfraktion im Bundestag, die CDU/CSU, kommt in Wahlumfragen derzeit auf knapp doppelt so viel Zuspruch wie die Sozialdemokraten.
Neuwahlen nicht ausgeschlossen
Dazu kommt, dass die Ampelkoalition, in der die SPD zusammen mit den Grünen und der FDP regiert, in massiven Turbulenzen steckt. Das Bündnis gilt als zerrüttet, angesichts der Konflikte über den Haushalt oder die Rentenpolitik halten manche in Berlin einen vorzeitigen Bruch der Regierung für denkbar. Sollte es so kommen, bliebe der SPD nur wenig Zeit, um einen Wahlkampf zu organisieren und aus dem Umfragetief zu kommen.
Was das bedeutet, sagte Kevin Kühnert vor Kurzem noch gegenüber dem "Spiegel" sehr deutlich: "Diesmal sind wir Titelverteidiger, wir stellen den Kanzler. Eine unveränderte Lage bis zum Sommer 2025 würden uns unsere Mitglieder zu Recht nicht durchgehen lassen. In den nächsten Monaten müssen sich nicht zwingend die Umfragen dramatisch ändern - wohl aber unser Kampfgeist und die Stimmung."
Möglicherweise wird sich auch SPD-Chef Klingbeil mehr in die Strategie für den bevorstehenden Wahlkampf einbringen. Er war Vorgänger von Kühnert als Generalsekretär und leitete den Wahlkampf, der Olaf Scholz ins Kanzleramt brachte. "Meine feste Überzeugung ist es", so Klingbeil in Berlin, "dass man Erfolg organisieren kann."