"Kiew sicherer als Sydney"
30. Januar 2022"Mein Telefon ist voller Nachrichten", sagt Jens Däßler mit einem müden Lächeln. Die meisten seien von Freunden und Verwandten. Sie fragen, wann er Kiew verlassen wolle. Doch der Unternehmer aus Deutschland hat es nicht eilig.
Vielen Ausländer in der ukrainischen Hauptstadt geht es offenbar ähnlich. Zwar sind die Spannungen zwischen Russland und der Ukraine nicht neu, doch die kürzliche Entscheidung mehrerer westlicher Staaten, Botschaftspersonal aus der Ukraine abzuziehen, hat für internationales Aufsehen gesorgt. Ein Krieg in Osteuropa wirkt plötzlich wie eine reale Möglichkeit.
"Normalerweise spreche ich vielleicht einmal im Monat mit meinen Eltern", sagt Ken Herbert, der vor zwei Jahren aus Sydney nach Kiew gezogen ist. "Derzeit sprechen wir alle zwei Tage." Auch Australien hat Diplomaten ausgeflogen. Die Botschaft habe ihn angerufen und gefragt, ob er ebenfalls seine Ausreise plane. Herbert sagt, er sei völlig überrascht von der Frage gewesen. Wie die meisten Menschen, mit denen die DW darüber gesprochen hat, will auch er in Kiew bleiben.
Unsichtbare Bedrohung
Einfach die Koffer zu packen und Kiew zu verlassen, fällt vielen auch deshalb schwer, weil die Stadt eigentlich sehr sicher ist: "Im Allgemeinen fühle ich mich hier sicherer als in Australien", sagt Herbert. "In Sydney laufe ich nachts nicht durch irgendwelche dunklen Gassen." In Kiew würde er sich dabei keine Sorgen machen.
Gleichzeitig ist die Bedrohung durch russische Truppen noch Hunderte Kilometer weit weg. "Man sieht keine Soldaten, keine Flugzeuge - nichts, das sich irgendwie nach Krieg oder Gefahr anfühlt", erklärt der Deutsche Däßler. Das Leben in Kiew gehe seinen Gang und die Nachricht über eine Restaurant-Eröffnung im Social-Media-Feed ist genauso wahrscheinlich wie Meldungen über die Lage an der Grenze. Es falle ihm wirklich schwer, seine Wahlheimat in den Bildern wiederzuerkennen, die internationale Medien zeichnen: "Die Sonne scheint, es gibt Pizza, es gibt Sushi - alles da", sagt er.
Alle Augen auf die Ukraine
"Die Situation hat sich vor allem für Menschen außerhalb der Ukraine geändert. Sie sind sich plötzlich bewusster, was hier los ist", sagt die US-Amerikanerin Kari Hiepko-Odermann, die 2018 mit Ehemann und Kindern nach Kiew gezogen ist. Hier lebe man schon lange mit der Bedrohung, die der Konflikt mit Russland birgt, seit Moskau 2014 die ukrainische Halbinsel Krim annektierte und seither pro-russische Separatisten im Osten des Landes unterstützt. "Die Ukrainer stecken seit mehr als acht Jahren in dieser schwierigen Situation", sagt Hiepko-Odermann. Deshalb würden sich Außenstehende häufig mehr Sorgen machen über die aktuellen Entwicklungen als die Ukrainer selbst.
Wie sie aus der Schule ihrer Kinder weiß, gibt es allerdings auch ausländische Familien, die Kiew bereits verlassen haben. Vor allem Zuwanderer, die ohnehin von zu Hause aus arbeiten, würden die Spannungen lieber in der Ferne aussitzen, um zurückzukommen, wenn sie vorübergehen.
Widersprüchliche Botschaften
Die teils widersprüchliche Kommunikation der ukrainischen Regierung hat in den letzten Wochen zur Verunsicherung beigetragen. In einer Video-Botschaft spielte Präsident Wolodymyr Selenskyj die Gefahr einer Eskalation herunter und rief die Ukrainer dazu auf, Ruhe zu bewahren und von Hamsterkäufen abzusehen. Tags darauf sagte er einem Reporter der "Washington Post", dass Charkiw, die zweitgrößte Stadt der Ukraine 40 Kilometer von der Ostgrenze entfernt, ein wahrscheinliches Ziel für eine russische Invasion sei.
Ein ukrainischer Top-Militär nannte kürzlich den 20. Februar als wahrscheinliches Angriffsdatum - dem Tag, an dem die olympischen Winterspiele in Peking enden. Dafür spräche, dass der Kreml dem chinesischen Regime dann nicht die Show stehle wie 2008, als die russische Intervention in Georgien die Aufmerksam der Weltpresse von den Sommerspielen in Peking ablenkte.
Gleichzeitig haben ranghohe Mitarbeiter von Selenskyj gegenüber Journalisten den russischen Truppenaufmarsch als politischen Bluff abgetan. Kein Wunder also, dass sich in der Ukraine Experten wie Laien die Köpfe zerbrechen, um verstehen, was in ihrem Land vor sich geht.
Hoffnung auf NATO-Hilfe
Angesichts der militärischen Bedrohung blicken viele Ukrainer hilfesuchend gen Westen. Die Zurückhaltung der deutschen Regierung in Sachen Waffenlieferungen hat viele von ihnen enttäuscht und ihr Deutschlandbild getrübt. Auch Unternehmer Däßler würde sich aus Berlin ein klares Bekenntnis zur Unterstützung der Ukraine wünschen.
Die kürzliche Lieferung von Munition und Panzerabwehr-Raketen aus den USA und die angekündigte Verlegung von Truppen nach Osteuropa kamen bei der ukrainischen Bevölkerung, wenig überraschend, sehr gut an. US-Präsident Joe Bidens fortgeschrittenes Alter, das ihm so oft als Schwäche ausgelegt wird, könnte jetzt ein Vorteil sein, sagt die US-Amerikanerin Hiepko-Odermann: "Er weiß, wie man Kalter-Krieg-Politik macht."
Gehen oder bleiben
Während die internationale Diplomatie - oft genug ohne ukrainische Beteiligung - auf Hochtouren läuft, hält man die Menschen in der Ukraine an, sich für eine eilige Abreise bereitzuhalten, für den Fall, dass die Lage doch eskaliert. Einen gepackten Koffer, Bargeld und ein Erste-Hilfe-Kasten griffbereit zu halten, könnte im Fall der Fälle darüber entscheiden, ob man die Ausreise rechtzeitig schafft oder nicht.
Die Empfehlungen in Medien und Foren, wie ein Notfallpaket auszustatten ist, reichen von Wodka zu Wunddesinfektion bis hin zu bengalischen Feuern, mit denen man in Not auf sich aufmerksam machen kann. Wie gangbar alle Fluchtpläne sind, wenn im Ernstfall Straßen verstopfen und Kommunikationswege ausfallen, sei dahingestellt.
Aber nicht jeder in Kiew hat überhaupt solche Pläne oder auch nur einen Notfallkoffer gepackt. Auch Ausländer in Kiew gehen mitunter ganz anders mit der Situation um: "Je mehr man die deutschen oder amerikanischen Nachrichten verfolgt, um so mehr Angst hat man", sagt Däßler. Sein Rezept: Einfach mal abschalten.
Aus dem Englischen von Jan D. Walter
Redaktion: Sonya Diehn (engl.), Sabine Faber (dt.)