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Kind Nr. 95

27. Oktober 2009

Lucia Engombe war eines der namibischen Kinder, die in die DDR geschickt wurden, um Ausbildung und sozialistische Gesinnung zu erhalten. Sie erlebte eine unbeschwerte Jugend in Ostdeutschland - bis die Mauer fiel.

Die Journalistin und Autorin Lucia Engombe, Foto: Ullstein Verlag
Lucia Engombe: "Kind Nr. 95"Bild: Ullstein Buchverlage

"Plötzlich hörte ich jemanden meinen Namen rufen. Ich drehte mich um und sah einen weißen Mann mit zwei Afrikanern auf mich zukommen. Der Deutsche fragte mich: 'Lucia, willst du mit nach Deutschland fliegen?' Ich erinnere mich an diese Frage und die Gefühle, die sie bei mir auslöste, deutlich: mein Herz tat vor Freude einen Riesensprung! Obwohl ich nicht die geringste Ahnung hatte, was das sein sollte: Deutschland… Endlich durfte ich auch mal fort aus Nyango! Weg von einem Ort, an dem ich stets Hunger und oft Angst hatte. Ich würde ja wiederkommen…". So erinnert sich Lucia Engombe an den Tag, der Leben veränderte. Darüber schreibt sie in ihrem Buch: "Kind Nr. 95 - Meine deutsch-afrikanische Odyssee".

Lucia war sieben; ihre Eltern Freiheitskämpfer bei der SWAPO, der "South West Africa People’s Organization", die für eine Unabhängigkeit Namibias und gegen die damals bereits 70 Jahre andauernde Besatzung durch Südafrika kämpften. Wie viele, lebten sie in einem Flüchtlingslager in Sambia. Aus diesem Elend heraus zu kommen, war Lucias Traum. Er erfüllte sich am 18. Dezember 1979, als sie mit rund 100 anderen namibischen Kindern in die DDR ausgeflogen wurde.

Eine neue Welt

Nach der Unabhängigkeit würde man eine neue Elite brauchen, so die Überlegungen der SWAPO, darum schickte sie ab den 1970er Jahren mehrere hundert Kinder in die DDR, um sie dort ausbilden zu lassen. Das Zentralkomitee der SED unterstützte das Projekt, schließlich sollten die afrikanischen Völker sich künftig dem Kommunismus und nicht dem Kapitalismus zuwenden, so hoffte man.

Staunend kam Lucia in eine neue Welt: "Das Licht war total anders, in Deutschland gab es Licht und Lampen", erinnert sie sich an ihre ersten Eindrücke, "hohe große Gebäude, moderne Toiletten; und es gab Früchte, wie Äpfel und Birnen, die ich noch nie im Leben gegessen hatte!"

Die ersten Wörter, die Lucia in Ostdeutschland lernte, waren "Schloss", denn die namibischen Kinder wurden im Schloss Bellin in Mecklenburg-Vorpommern abgeschirmt unterbracht - und "Schnee": Für beides gab es in ihrer Sprache Oshivambo keinen Ausdruck, und noch nie hatten die Kinder Schnee gesehen: "Wir dachten, dass sei Zucker und wir sind im Zuckerland!", erzählt sie. In dem Flüchtlingslager, wo sie aufgewachsen war, war Zucker etwas Seltenes und Begehrtes, "weißes Gold", sagt sie.



Unbeschwerte Jugend

Doch sie erinnert sich auch an Heimweh und das sehnsüchtige Warten auf die Briefe ihrer Mutter. Und an "Teacher Jonas", einen namibischen Erzieher, den die SWAPO als Aufpasser mit nach Deutschland geschickt hatte: Täglich gab es Appelle, sie lernten marschieren, Strammstehen und die SWAPO zu verehren.

1985, nach fünfeinhalb Jahren in Bellin, wechselte Lucias Gruppe an die "Schule der Freundschaft" in Staßfurt. Die jungen Namibier kamen in die Pubertät, sie tanzten und küssten sich und hatten zum ersten Mal Liebeskummer, während sie in der Schule weiter zur zukünftigen Elite Namibias ausgebildet und ideologisch eingenordet wurden: "Seht her, in der DDR braucht keiner zu hungern und es gibt keine Arbeitslosen!", habe es da immer geheißen, so Lucia. Im Westen hingegen hätten die Menschen herum gelungert, keine Arbeit besessen und obdachlos gewesen. "Die Gegensätze wurden immer hervor gehoben", erinnert sie sich.

Junge Namibier erhielten in der DDR ihre Ausbildung - im Gegenzug brachten sie ihre Arbeitskraft ein und verinnerlichen den sozialistischen Geist, so die Überlegung damals. Bundesarchiv: Bild 183-1987-0713-304Bild: Bundesarchiv / Sindermann
Flucht aus der Armut: Für viele war die DDR eine ChanceBild: DW / Koch
Die "Schule der Freundschaft" in StaßfurtBild: DW

Trotz linientreuem Staatsbürgerunterricht waren Lucia und ihre namibischen Freunde fasziniert vom Westen: Von Whitney Houston und Bruce Springsteen, bis hin zu Bravo und "Bubble Gum": "Konsumgüter, wie Haribo und Kinderschokolade waren ja ganz selten bei uns", erzählt sie lachend, "und die Bravo war sehr beliebt bei uns, Doktor Sommer und so… da habe ich gerne drin geschnüffelt!"

Die Welt verändert sich

Doch allmählich veränderte sich die Welt um sie herum: In der Deutschen Demokratische Republik traten ab Sommer 1989 erste Verfallserscheinungen zu Tage; in Afrika entstand ein anderer Staat. "Wir waren von beiden Entwicklungen direkt betroffen. Aber wir bekamen das kaum mit", erinnert sich Lucia, "denn es geschahen in dieser Zeit so viele Dinge gleichzeitig, und einige widersprachen sich völlig!"

Als immer häufiger der Unterricht ausfiel und immer mehr Lehrer fehlten, merkten sie und ihre Mitschüler, dass sich etwas veränderte: "Unser Staatsbürgerkundelehrer war plötzlich verschwunden, und wir hören, dass er im Westen gewesen war. Er kam zurück und erzählte plötzlich, der Westen sei gar nicht so schlecht… er war wie ausgewechselt!", erinnert sich díe Namibierin.

Rückkehr in die fremde Heimat

Als schließlich die Mauer fiel, wurden die so genannten "DDR-Kinder" wieder in ihre Heimat geschickt. Für Lucia ging es 1990 nach 11 Jahren zurück nach Namibia, ein für sie mittlerweile fremdes Land. Lucias Enttäuschung war grenzenlos, als sie in ein Auffanglager gewiesen wurde und es tagelang nicht verlassen durfte. Angst habe sie gehabt, vor der ungewissen Zukunft, dass sie in die Armut abrutsche, keine Schule finden und ihre Mutter nicht ausfindig machen würde, sagt sie heute: "Unsere Stimmung war am Boden, wir waren total fertig, und ich habe geheult!"

Das Buch von Lucia Engombe: "Kind Nr. 95"

Aber Lucia war stark. Sie machte ihren Schulabschluss an der Deutschen Schule in Windhoek und studierte Journalistik. Seit fünf Jahren arbeitet sie nun für den namibischen Rundfunksender NBC in der deutschen Redaktion. Und sie moderiert nicht nur auf Deutsch, sie denkt und schreibt auch am liebsten auf Deutsch: "Ich fühle mich deutsch, ich koche deutsch, am liebsten Spinat mit Kartoffeln und Spiegelei und ich singe ich auf deutsch!"

Seine Identität bekomme man schließlich durch die Vergangenheit und die Erfahrungen, die man mache: "Ich bin Namibierin und Deutsche zugleich", sagt sie und die Bilanz über ihre Zeit als "DDR-Kind" fällt positiv aus: "Es war eine gute Sache, ich habe eine gute Ausbildung bekommen und gelernt, unabhängig und frei zu denken. Ich bin dankbar, ich kann nur danke sagen!"

Autorin: Barbara Gruber
Redaktion: Ina Rottscheidt