Kinder an die Wahlurne
16. September 2013Bundeskanzlerin Angela Merkel ist topp, den Koalitionspartner FDP kennt hier kaum einer: Bei den Bundestagswahlen für unter 18-Jährige, die am Freitag (13.09.2013) in ganz Deutschland stattfanden, haben 27,4 Prozent der Kinder und Jugendlichen für die christlich demokratischen Parteien CDU/CSU gestimmt. Die Unionsparteien sind damit klarer Sieger bei U18, einem politischen Bildungsprojekt, bei dem junge Leute in den Wahljahren kurz vor den "echten" Bundestagswahlen eigene Wahlen durchführen.
Die FDP, die Liberalen, landete mit 4,6 Prozent der Stimmen unter "Sonstige", die Linke bekam 7,6 Prozent der Stimmen, die internetaffinen Piraten 12,2 Prozent und die Grünen landeten in der U18-Wählergunst mit 17,3 Prozent auf Rang drei. In den letzten Jahren waren die Sozialdemokraten, die SPD, meist unangefochtener U18-Wahlsieger. In diesem Jahr aber wurden sie mit 20,7 Prozent der Stimmen nur zweitstärkste Partei. "Das erstaunt mich sehr", zeigte sich die Berliner SPD-Bundestagsabgeordnete Eva Högl am Wahlabend enttäuscht, nachdem in der von Jugendlichen produzierten Livesendung die ersten Hochrechnungen bekannt gegeben wurden. "Offenbar ist die Kanzlerin auch bei Jugendlichen so populär, dass es für uns schwer ist, dagegen an zu argumentieren."
Mehr als 170 000 Kinder und Jugendliche stimmen ab
Wahltag und Hochrechnungen, eine eigene Wahlsendung und echte Abgeordnete, die die Wahlergebnisse kommentieren. Dazu Berichte in den Zeitungen, im Radio und den lokalen Fernsehsendern. "U18 ist erwachsen geworden", sagt Markus Lehmann, Jugendhilfeplaner im Bezirksamt Berlin-Mitte und U18-Gründer. "Ich hätte nie gedacht, dass wir einmal so groß werden würden." 1995, als die Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus anstanden, arbeitete Lehmann in einer Jugendeinrichtung in Berlin-Wedding. "Damals wollte ich die jungen Leute für die Wahlen interessieren, ich wollte das Thema lebendiger und spannender gestalten." Er besorgte Parteiprogramme und arbeitete sie mit den Jugendlichen durch. Am Ende sollten sie selbst wählen, 40 Jugendliche, mit Urnen und Stimmzetteln, genau wie bei den richtigen Wahlen. Schon wenig später fanden "U18-Wahlen" in ganz Berlin statt, seit 2005 gibt es sie bundesweit, mit steigender Resonanz: Mehr als 170.000 Kinder und Jugendliche wählten in diesem Jahr in mehr als 1.500 Wahllokalen in allen Bundesländern – so viele wie noch nie.
U18 ist größte politische Bildungsinitiative Deutschlands
Die landläufige Meinung, wonach junge Leute sich nicht für Politik interessieren, teilt Markus Lehmann ohnehin nicht. Von Anfang an sei ihm aufgefallen, erzählt er, wie gut Kinder und Jugendliche über Vorgänge in ihrem Wohnumfeld Bescheid wussten, wie kritisch sie die Parteien in Bezug auf ihre Haltung etwa zum Umwelt- und Tierschutz prüften, wie genau sie nachfragten, wenn sie in den Programmen oder im allgemeinen Wahl-Procedere etwas nicht verstanden. Dieses Interesse galt es aufzufangen und zu fördern: In Schulen und Schülerläden, Freizeiteinrichtungen und Vereinen. Mit Projekttagen, in denen demokratisch Entscheidungen getroffen werden müssen; mit Unterrichtsstunden, in denen Erst- und Zweitstimme erklärt und Wahlzettel ausgefüllt werden; mit Spielen, die Parteien und ihre Positionen vorstellen, in Diskussionsrunden mit Politikern, mit Schulungsmaterialien. Die politische Bildungsarbeit im Vorfeld der U18-Wahlen, so Markus Lehmann, sei der Kern des Projekts. "Wahlen sind nur der kleinste gemeinsame Nenner des politischen Engagements. Unser Ziel sind demokratiefähige und kritische junge Menschen."
U18 gilt inzwischen als größte politische Bildungsinitiative Deutschlands, dezentral organisiert von Landesjugendringen und Jugendverbänden. Für das Kinder- und Jugendbüro Berlin Steglitz-Zehlendorf etwa war Niklas Kuck im Vorfeld der U18-Wahlen rund einmal pro Woche in Schulen unterwegs und hat Podiumsdiskussionen moderiert – zuletzt zwischen Vertretern von Grüner Jugend, Linksjugend und Junger Union und Neuntklässlern der Wilma-Rudolph-Oberschule Zehlendorf. Bei U18 gehe es auch darum, so der Politikstudent, dass junge Leute mit jungen Leuten über Politik reden. Dass dieser oft leere Begriff mit konkreten Inhalten gefüllt wird, mit Themen, die im Leben junger Leute eine Rolle spielen: Willst Du, dass Kinder mit Behinderungen zusammen mit Dir in einer Klasse lernen? Möchtest Du studieren oder eine Ausbildung machen? Wie stehst Du zu Drogen? "Wir wollen, dass die Schüler sich damit beschäftigen, welche Partei ihre Position am ehesten vertritt. Wenn sie in ein paar Jahren selbst "richtig" wählen dürfen, sollen sie nicht vor der Wahlurne stehen und nicht wissen, wen sie wählen sollen."
Schüler und Parteien lernen voneinander – bald europaweit
Das Konzept geht auf: Seit der U18-Vorbereitungsrunde überdenke er seine Haltung zu den Grünen, sagt Matti. "Ich wusste zum Beispiel nicht, dass die Grüne Jugend für die Legalisierung aller Drogen ist. Ich weiß nicht recht, ob ich das gut finde." Luca und Julian wiederum interessieren sich für Integration und Umweltschutz – und finden ihre Meinungen von den Grünen gut vertreten. "Ich fand die Linke immer voll cool", sagt Abi, "aber jetzt hab ich gehört, dass einige Linke meinen, ein Verbot der NPD wäre falsch. Ich weiß gar nicht, wie man gegen so ein Verbot sein kann." Lara fand die CDU überzeugend und die meisten teilen ihre Ansicht, dass es gut war, dass Vertreter der Jugendorganisationen der Parteien mit ihnen gesprochen haben. "Die kommen eher an uns ran und wissen, wie wir denken. Ältere können das nicht so. Bei jüngeren Leuten hat man auch nicht so viel Schiss, dass man blöd da steht, wenn man eine Frage hat."
Aber nicht nur Kinder und Jugendliche, auch die Parteien haben durch U18 dazugelernt, sagt Markus Lehmann. "Als wir angefangen haben, die Parteien nach Programmen zu fragen, die auch für Jüngere verständlich sind, haben sie sich sehr schwer getan. Es war kaum möglich, von der Politik verständliche, klare Aussagen zu bekommen." Mittlerweile aber würden die Anfragen sehr schnell beantwortet und fast alle Parteien hätten Programme, die in kinder- und jugendgerechter Sprache verfasst sind. "Die Politiker haben gemerkt, dass sie bei Kindern und Jugendlichen nicht mit Worthülsen ankommen. Dass sie ganz klare Fragen bekommen und dass klare Antworten erwartet werden." Inzwischen fragen die Parteien selbst bei den U18-Organisatoren nach, wann sie endlich zu Diskussionsveranstaltungen eingeladen werden. "Die nehmen sie gerne wahr, gerade auf lokaler Ebene. Sie wissen: Das sind zwar keine Wähler, die heute da sind, aber morgen sind es welche."
Angespornt durch den Erfolg wollen die U18-Macher jetzt weiter expandieren: Unter dem Motto "U18 goes Europe" sollen 2014 auch vor den Europawahlen U18-Abstimmungen stattfinden. Die ersten Gespräche, so Markus Lehmann, laufen bereits. "Wir haben von Berlin aus Kontakt mit anderen europäischen Großstädten aufgenommen. Dort sollen zeitgleich U18-Europawahlen stattfinden. Wir wollen auch einen Jugendaustausch organisieren. Wir exportieren unsere Idee. Und dann sehen wir mal, was noch draus wird."