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Kinder auf dem Strich

14. November 2003

- Tschechische Politiker dementieren, doch vor Ort zeigt sich die abstoßende Wahrheit

Prag, 12.11.2003, PRAGER ZEITUNG, von Hana Čápová und Marek Švehla

Einen solchen Aufruhr um ein Buch hat es in Tschechien noch nicht gegeben. Die Politiker sprechen von Verunglimpfung des Landes. Vertreter von Hilfsorganisationen beschuldigen die Autorin des Betrugs. Die Polizei denkt über die Einleitung eines Strafverfahrens gegen sie nach. Und das alles, wegen eines Buchs: In "Kinder auf dem Strich – Bericht von der deutsch-tschechischen Grenze" hat die deutsche Autorin Cathrin Schauer das Grenzgebiet als eine Region beschrieben, in der die Kinder-Prostitution blüht. Die Tschechen dementieren beinahe einstimmig und verlangen Beweise von Schauer. Doch jeder, der einmal im Grenzgebiet des westlichen ehemaligen Sudetenlandes war, sieht: Es ist nicht gerade das Schaufenster des tschechischen Kapitalismus. (...)

Deshalb reagierte ihr Chef, Innenminister Stanislav Gross (Sozialdemokratische Partei), auf eine Art, die nichts mit dem Buch und den Ursachen der darin beschriebenen Probleme zu tun hat: "Wir werden von unseren deutschen Kollegen Beweise fordern." Und Ivan Langer, Schattenminister des Inneren von der bürgerlichen Oppositionspartei ODS, entfernt sich noch weiter vom Problem: "Wir dürfen nicht zulassen, dass der gute Name der Tschechischen Republik derart von den deutschen Nachbarn beschmutzt wird." Auch in Cheb ärgert man sich. Bürgermeister Jan Svoboda sagt: "Das schadet uns. Vielleicht wäre es am besten, wenn wir im Austausch jemanden nach Hamburg schicken und erkunden, wie es dort mit der Kinderprostitution steht. Und dann sagen – wir helfen euch."

"Wir haben nicht erwartet, dass das Buch eine derartige Reaktion hervorruft. Angemessen wäre, sich darauf zu einigen, dass dies ein ernstes Problem ist und sich darum zu kümmern, was man unternehmen soll", sagt Pavla Gombová, Leiterin der tschechischen Niederlassung von UNICEF. "Wir bedauern, dass Kinderprostitution in den Medien entweder als billige Sensation oder als politisches Problem erscheint."

Dabei hatte sich die deutsche UNICEF mit der Veröffentlichung vor allem an die deutsche Regierung gewandt. Sie wollte zweierlei erreichen: erstens eine grundlegende Studie über die Kinderprostitution im Grenzgebiet. "Solche eine Analyse fehlt bislang. Das Buch von Frau Schauer will keine Analyse sein, es will nur darauf aufmerksam machen, dass die Kinderprostitution existiert. Und das ist ihr gelungen", sagt Pavla Gombová. Und zweitens sollte die deutsche Polizei enger mit ihren tschechischen Kollegen zusammenarbeiten. Oder wie Gambová sagt: "Man muss die Übeltäter ausfindig machen, sie überführen und bestrafen."

Das ist nicht so einfach, wie Ludmila Irmscher zu berichten weiß. Ludmila Irmscher, geborene Slowakin, ist Mitarbeiterin von Cathrin Schauer und hat die im Buch aufgeführten Interviews übersetzt. "Da kam einmal eine erwachsene Prostituierte zu mir und sagte – der Kerl, der gerade bei mir ist, will ein kleines Mädchen. Der Mann hat dann offen zugegeben, dass das so ist. Er hat sich so verteidigt: Ich brauche keine Therapie von Ihnen. Jeder macht das, also will ich das auch mal probieren. Daheim habe ich eine dicke Frau, ich brauche was Zarteres. Er sei sozusagen wie ein Sammler von Porzellan, der ein wertvolles Stück suche." Sie sei dann zur Polizei gefahren, sagt Ludmila Irmscher. Auf der Polizeiwache habe sich der Mann genauso aufgeführt: "Er hat denn Polizisten gesagt – ihr seid doch auch Kerle, sagt mir doch nicht, dass ihr noch nie an kleine Mädchen gedacht habt." Die Polizei übergab ihn den deutschen Kollegen, doch die ließen ihn laufen: "Man konnte ihm nichts nachweisen, solange es nicht zum Geschlechtsverkehr gekommen ist", sagt Ludmila Irmscher. (...)

Vielleicht ärgern sich tschechische Politiker und Beamte gerade deshalb so über dieses Buch und seine Autorin, weil es so schwierig ist, die Wahrheit zu ergründen. "Kinderprostitution ist schwer aufzuklären", bekennt der Bürgermeister von Cheb. "Was können wir denn gegen sie machen? Alle Pädophilen schriftlich auffordern, das zu lassen?"

Die Politiker versichern lieber, dass es kein Problem gibt, als sich an die – zugegebenermaßen schwierige – Lösung des Problems zu machen. Eine Rolle spielt auch, dass Kinderprostitution häufig in Roma-Familien vorkommt. Die Gleichgültigkeit gegenüber deren Problemen drückt am besten eine E-Mail aus, die der tschechischen Niederlassung von UNICEF zugeschickt wurde: "Ich kenne keinen Kindesmissbrauch. Ich kenne nur zwölfjährige Zigeunerinnen, die sich verkaufen."

Innenminister Stanislav Gross drohte, die Buch-Autorin anzuzeigen, weil sie Straftaten, von denen sie wusste, nicht angezeigt habe. "Wir können mit einem Kind, das uns so etwas mitteilt, nicht zur Polizei gehen. Das wäre Verrat – es darf eigentlich nicht darüber sprechen und sagt uns das nur, weil es uns vertraut", sagt Ludmila Irmscher dazu

Die Leiterin des tschechischen UNICEF-Büros Pavla Gambová hält die Anschuldingen des Innenministers für absurd: "Am Ende wird nur einer wegen Kinderprostitution bestraft – derjenige, der davor gewarnt hat." (fp)