Kinder in Not in Indiens "Hungergürtel"
13. Oktober 2014"Lakshmi, hörst du uns?" rufen die Frauen. Sie reiben die Hände und Füße des kleinen Mädchens. Ihr Körper ist eiskalt. Lakshmi liegt leblos auf dem Schoß einer Mitarbeiterin der staatlichen Hilfsstation für unterernährte Kinder im indischen Bundesstaat Madhya Pradesh. Ihre weiten Augen hat sie noch geöffnet. Aber Lakshmi reagiert nicht mehr. "Ruft den Rettungswagen", hallt es durch den Raum. Seit Stunden hatte das Mädchen geschrien, ihren Körper dabei durchgestreckt. Die Mutter war nur kurz mit ihr vor die Tür gegangen, um sie zu beruhigen. Doch plötzlich hatte die Kleine das Schreien aufgehört und das Bewusstsein verloren.
Jetzt steht die Mutter kreidebleich und hilflos neben ihrer Tochter. "Im Krankenhaus hieß es, ein Rettungswagen kann erst geschickt werden, wenn der zuständige Arzt sein OK gibt“, erklärt die Leiterin des Rehabilitationszentrums für unterernährte Kinder, Kusum Narwe. "Das ist unglaublich", sagt sie kopfschüttelnd. Den ganzen Tag schon habe sich der Arzt immer wieder entschuldigen lassen. Er sei in wichtigen Terminen, hieß es.
Nach ein paar Minuten entscheiden sich die Helferinnen für den Wagen der Hilfsstation und fahren mit Lakshmi los. Doch es ist zu spät. Das Mädchen überlebt den Weg ins Krankenhaus nicht. Lakshmis Tod steht stellvertretend für den Missstand und die Tragödie, mit der Indien tagtäglich konfrontiert ist. Vor allem auf dem Land, wo immer noch Zwei Drittel der 1,2 Milliarden Menschen leben. Zum Beispiel im zentralindischen Bundesstaat Madhya Pradesh. Dort sind nach Angaben eines Regierungsberichts mehr als die Hälfte aller Kinder unter fünf Jahren stark unterernährt.
Überforderte Mütter
Eines davon ist auch Sonu. Sie hat den typischen Blähbauch, ein so genanntes Hungerödem. Dabei lassen Wasserablagerungen die Wangen und Bäuche der abgemagerten Kinder anschwellen. Die Dreijährige hat bereits einen Aufenthalt im Rehabilitationszentrum hinter sich. Drei Mahlzeiten, Milch und Medizin erhielt sie damals. Die Behandlung schlug an. Seitdem muss sie alle zwei Wochen zum Kontrollbesuch, wird gewogen und gemessen. Sonu schluchzt und klammert sich an den Hals ihrer Mutter, als begreife sie, wie schlimm es um sie steht. Seit ein paar Wochen liegt sie wieder im kritischen Bereich. Zehn Zentimeter Armumfang sind für ein dreijähriges Kind viel zu wenig.
"Ich bin durcheinander und weiß nicht, was ich tun soll", erklärt ihre Mutter Runa. "Mein Kind ist schwach. Eigentlich müsste ich mit ihr wieder ins Rehabilitationszentrum. Aber meine Familie ist dagegen." Jeder Tag, den die 28jährige nicht auf dem Feld arbeitet, ist ein Verdienstausfall, der die ganze Familie trifft. Umgerechnet knapp einen Euro verdient Runa als Tagelöhnerin. Sie erntet Mais, Chilis oder Baumwolle auf den Plantagen der Großgrundbesitzer. Sozialarbeiterin Jazmin Khan überzeugt Mütter wie Runa davon, trotzdem Hilfe zu suchen. Die 26jährige spricht mit den Schwiegereltern, den Ärzten und den Ehemännern.
"Oftmals verhindert das direkte familiäre Umfeld eine Behandlung, weil dann keiner mehr zu Hause kochen kann, wenn die Mutter mit dem Problemkind für ein paar Tage ins Rehabilitationszentrum geht. Sie sehen den Ernst der Lage nicht. So einfach ist es!"
Der abwesende Staat
Ärzte, die nicht handeln und Mütter, die ihre Not nicht erkennen: Die Liste der Ursachen für die Unterernährung ist lang. Häufig leiden bereits die Mütter unter Mangelerscheinungen. Blutarmut, die so genannte Anämie, ist ein weit verbreitetes Übel, das drei Viertel aller indischen Kleinkinder mit in die Wiege gelegt bekommen. In vielen Dörfern sind Nichtregierungsorganisationen wie Jan Sahas die ersten, die medizinische Hilfe anbieten, erklärt Projektleiter Harshal Jariwala.
"Manche Mütter haben uns am Anfang nicht mal in ihre Häuser gelassen. Sie wollten ihre Kinder nicht auf eine Waage setzen, geschweige denn in die Schlaufe einer Waage legen. Sie glaubten, dass das Kind davon krank werde." Deshalb würden sich viele betroffene Eltern noch immer an traditionelle Heiler wenden, die in ihr Dorf kommen, erklärt er. In manchen Familien gelte ein unterernährtes Kind gar als Fluch, da keiner weiß, wie es dazu kommen konnte, dass es immer dünner wird. Der Staat scheint in diesen Dörfern nicht vorhanden zu sein. Und das, obwohl es eine Vielzahl von sozialen Programmen und Gesetzen gibt, die genau diesen Armen eine Ration von Lebensmitteln garantieren sollen. Eines dieser Programme richtet sich sogar explizit an unterernährte Kinder und ihre Mütter.
Die Realität aber ist eine andere, weiß Harshal Jariwala. Die Programme der Regierung seien gut ausgestattet, keine Frage. "Indien hat die Ressourcen, aber sie sind schlecht verwaltet. Dazu kommt die Korruption. Die Einrichtungen und Essensrationen, die eigentlich die Armen erreichen sollten, kommen nicht an, weil sich die Ebenen darüber alles in die Tasche stecken. Bis die Menschen Hilfe erhalten, kann es schon zu spät sein." So wie im Fall der kleinen Lakshmi. Als sie starb, wog die Dreijährige gerade mal 3,9 Kilogramm.