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Politik

Mädchen im Jemen, zwangsweise verheiratet

Safia Mahdi kk
10. Mai 2020

Im Jemen werden minderjährige Mädchen oft mit erheblich älteren Männern verheiratet - mit katastrophalen Folgen für die Betroffenen. Erfolge im Kampf gegen Kinderheiraten sind selten. Aus Sanaa berichtet Safia Mahdi.

Symbolbild- Kinderehe
Bild: picture-alliance/dpa/B. Roessler

Hind hat ihr Leben zurück. Mit triumphierendem Lächeln begrüßt das zwölfjährige Mädchen ihre Besucherin. Vor einiger Zeit war es ihrer Mutter gelungen, ein Gerichtsurteil zugunsten ihrer Tochter zu erwirken. Das Gericht hob einen Ehevertrag auf, den ihr Vater für sie geschlossen hatte. Der sitzt seit neun Jahren im Gefängnis und hatte seine Tochter einem zum Tode verurteilten Mithäftling versprochen.

Die Umstände von Hinds Geschichte sind ungewöhnlich - und immerhin ist sie glücklich ausgegangen. Aber sie ist kein Einzelfall: Im Jemen werden viele Mädchen zur Heirat gezwungen, obgleich sie noch nicht in einem Alter sind, in dem sie eine selbstbestimmte Sexualität leben und eine Ehe führen können. Wann junge Frauen dafür als alt genug gelten, ist im Jemen bis heute nicht klar gesetzlich geregelt. Und so werden minderjährige Mädchen weiterhin in die Ehe gezwungen - eine Praxis, die sich in dem seit Jahren andauernden Krieg noch einmal verstärkt hat. Das stellte im April eine Arbeitsgruppe des UN-Sicherheitsrates fest, die zudem zahlreiche weitere gravierende Verstöße gegen Kinderrechte anprangerte, wie Ermordungen, Entführungen oder Rekrutierungen als Kindersoldaten.

Der Zwangsheirat entkommen: Hind vor dem Haus ihrer FamilieBild: DW/S. Mahdi

Hind, die derzeit in die sechste Klasse geht, hat eine leibliche Schwester sowie vier Halbschwestern. Die brachte ihr Vater mit in die Familie. Nun zieht Hinds Mutter sie groß. Die Familie lebt in einer bescheidenen Zweizimmerwohnung am südwestlichen Rand der Hauptstadt Sanaa.

Verheiratet an einen Mann im Knast

Hinds Leidensgeschichte begann vor einigen Monaten. Da besuchte sie ihren Vater im Gefängnis und er eröffnete ihr, sie solle sich auf ihre Hochzeit vorbereiten. Sie werde bald mit einem Mann verheiratet, der ebenfalls im Gefängnis sitze, erzählt ihre Mutter der DW. Der 30-jährige Bräutigam, den der Vater auserkoren hatte, war wegen Drogenschmuggels und -besitzes zum Tode verurteilt. Heiraten sollte Hind ihn trotzdem. Im Jemen haben Gefangene das Recht, ihre Ehefrauen einmal pro Woche im Gefängnis zu treffen.

Dokument der Freiheit: Das Urteil, das Hinds Heiratsvertrag ungültig machtBild: DW/S. Mahdi

Das Mädchen ist nicht das einzige in ihrer Familie, das gegen seinen Willen verheiratet wurde. Seine Mutter berichtet, die Familie habe noch lange nicht das Schicksal von zwei Schwestern Hinds verwunden. Die eine, Sabrin, wurde vom Vater ebenfalls an einen Mitgefangenen verheiratet. Nach der Heirat wurde sie krank - und schwanger. Die andere Schwester, Wadad, wurde ebenfalls zwangsverheiratet. Die Minderjährige hat bereits zwei Kinder.

All dies veranlasste Hinds Mutter, vor Gericht zu klagen, um Hinds Ehevertrag für ungültig erklären zu lassen. Am Ende gewann sie den Prozess, doch Ruhe kehrte nicht ein. Hinds abgewiesener Bräutigam drohte der Mutter per SMS, er würde die Tochter "mit Gewalt" holen, sollte sie nicht bald zu ihm in die Haftanstalt kommen. Der Fall erregte im Jemen öffentliches Aufsehen.

Armut fördert Kinderehen

Für die meisten Mädchen ist es extrem schwierig, einer aufgezwungenen Ehe zu entgehen. Die jetzt 17-jährige Manal war 13, als ihre Familie sie zwang, einen 20 Jahre älteren Mann zu heiraten. Zwar endete auch diese Ehe mit Scheidung. Doch Manal bleiben bittere Erinnerungen. Nach der Heirat habe sie von Tag zu Tag stärker gelitten, erzählt sie der DW. Sie habe das Leben als Ehefrau nicht mehr ertragen können. "Je älter ich werde, desto mehr empfinde ich, wie grausam diese Erfahrung war. Es war eine verlorene Zeit."

Die Verheiratung Minderjähriger wird oft mit angeblichen Traditionen begründet oder vermeintlich religiös gerechtfertigt. Darüber wird im Jemen wie auch in anderen arabischen Ländern seit Jahrzehnten diskutiert - auch wenn sich Ausmaß und die Hintergründe dieser Praxis regional deutlich unterscheiden. Etliche Länder haben beispielsweise ein Mindestalter vom 18 Jahren für die Braut gesetzlich vorgeschrieben - was nicht heißt, dass das immer eingehalten wird.

Im Jemen gibt es viele Gründe für die zahlreichen Kinderehen: Zur gesellschaftlichen Tradition kommt die chronische Armut, und die hat der Krieg noch massiv verschlimmert: Rund 24 Millionen Jemeniten sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Bildungsprogramme, die darauf abzielten, Kinderheiraten zu unterbinden, wurden zusammengestrichen oder fielen ganz weg. Einem UN-Bericht zufolge stieg die Zahl der Ehen von Mädchen unter 18 Jahren allein zwischen 2017 und 2018 um nahezu das Dreifache.

Niemand schützt die Opfer

Genaue Statistiken gibt es nicht. Aber auch Ahmed Al-Qurashi, Präsident der Kinderschutzorganisation Siyaj, betont im im DW-Gespräch, die Zahl der Ehen junger Frauen sei seit 2014 - dem Beginn des Krieges - in beispielloser Weise gestiegen.

Die Gründe seien vielfältig, so Al-Qurashi. So fehle etwa eine Instanz, die Kinderrechte durchsetze. In den meisten Regionen des Landes erfüllten Gerichte, Staatsanwälte und Polizei ihre Aufgaben nicht mehr. Dies gelte insbesondere für die ländlichen Gebiete, in denen Kinderehen häufiger vorkämen. Hohe Armuts- und Arbeitslosenquoten, ausfallende Gehälter, der Rückzug zahlreicher Unternehmen und Institutionen sowie ein hohes Maß an Korruption im Umfeld humanitärer Hilfe trügen dazu bei, dass Mädchen früh verheiratet würden. "Mit großer Sorge beobachten wir Verstöße und Praktiken, die gegen die Kinderrechte verstoßen. Da es keinen Opferschutz gibt, nimmt das stark zu."

Engagiert für Kinderrechte: Psychologin Balqees Abu LahumBild: DW/S. Mahdi

Geburten lebensgefährlich

Armut sei der wesentliche Grund für die Kinderheiraten, meint auch die jemenitische Psychologin Balqees Abu Lahum. "Viele Eltern verfügen praktisch über kein Einkommen, während sie zugleich viele Kinder haben. So sehen sie sich gezwungen, ihre Töchter mit einem Mann zu verheiraten, dem das Alter des Mädchens egal ist."

Eine solche Ehe habe für die Mädchen katastrophale Folgen, betont Abu Lahum. Brächten sie Kinder zur Welt, überlebten viele junge Mütter die Geburt nicht. Andere hingegen litten anschließend an psychischen Problemen, die sich wiederum auf ihre Kinder übertrügen. Abu Lahum betont, wie wichtig es sei, dass Mädchen Zugang zu Bildung erhielten. Auch müsse mehr getan werden, um die Gesellschaft zu sensibilisieren. 

Zentral sei vor allem, eine gesetzliche Untergrenze für das Heiratsalter festzulegen. Doch der Jemen hat seit vielen Jahren nicht einmal eine funktionsfähige Regierung, die eine solche Entscheidung für das ganze Land beschließen und umsetzen könnte.

Kinder im Jemen zahlen den Preis für den Krieg

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