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Keine Kinderrechte im Grundgesetz

8. Juni 2021

Anfang 2021 schien die lange geplante Verfassungsänderung für Kinderrechte greifbar nahe zu sein. Jetzt sind die Verhandlungen doch gescheitert. Fast alle sind enttäuscht - und schieben anderen die Schuld zu.

Deutschland Demonstration  für die Beachtung der Kinderrechte während der Corona-Pandemie
Kinder müssen weiter darauf warten, dass ihre Rechte im Grundgesetz verankert werden (Archivbild)Bild: Boris Roessler/dpa/picture alliance

Eingriffe in das Grundgesetz, wie die deutsche Verfassung heißt, sind nie einfach. Schon deshalb, weil mindestens zwei Drittel der Abgeordneten zustimmen müssen. Da die Bundesregierung im Parlament über keine Mehrheit in dieser Größenordnung verfügt, war klar: Wenn Kinderrechte explizit ins Grundgesetz sollen, müssen auch Stimmen aus der Opposition her. Im Januar präsentierte die Regierungskoalition aus Konservativen (CDU/CSU) und Sozialdemokraten (SPD) einen Text, der in Artikel 6 des Grundgesetzes eingefügt werden sollte:

"Die verfassungsmäßigen Rechte der Kinder einschließlich ihres Rechts auf Entwicklung zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten sind zu achten und zu schützen. Das Wohl des Kindes ist angemessen zu berücksichtigen. Der verfassungsrechtliche Anspruch von Kindern auf rechtliches Gehör ist zu wahren. Die Erstverantwortung der Eltern bleibt unberührt."

Damit wollte die Regierung nach langen Verhandlungen ein im Koalitionsvertrag 2017 gegebenes Versprechen erfüllen. Allerdings musste die Opposition noch überzeugt werden. Da mit Ausnahme der Alternative für Deutschland (AfD) niemand grundsätzlich gegen die Aufnahme von Kinderrechten ins Grundgesetz war, überwog bei den Befürwortern der Optimismus. Auch der Zeitpunkt schien angemessen, denn Kinder leiden weltweit unter der Corona-Pandemie besonders stark. Ihnen durch eine Verfassungsänderung künftig erklärtermaßen in Deutschland mehr Rechte einzuräumen, wäre da in den Augen Vieler ein wichtiges Signal gewesen. Frei nach dem Motto: Wir haben verstanden!

Parteien machen sich gegenseitig für das Scheitern verantwortlich

Doch nun müssen die Jüngsten und Schutzbedürftigsten weiter warten. Denn der gefundene Kompromiss ist nach weiteren Gesprächen zwischen allen im Parlament vertretenen Parteien gescheitert. Die Beteiligten machen sich nun gegenseitig Vorwürfe. Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD), die kommissarisch auch das Familienministerium leitet, schiebt ihren Koalitionspartnern von CDU/CSU und der Opposition die Schuld in die Schuhe. Die wiederum zeigen mit dem Finger auf die Sozialdemokratin.

Das Aktionsbündnis Kinderrechte ist schwer enttäuscht über die fehlende Kompromissfähigkeit der Politik: Die gescheiterten Verhandlungen seien ein "herber Dämpfer für die Kinder, Jugendlichen und Familien unseres Landes, die in den vergangenen Monaten ohnehin schon wenig Unterstützung erfahren haben". Die Corona-Pandemie habe deutlich gezeigt, "dass Kinderrechte bisher zu häufig übergangen werden" Die im Aktionsbündnis vertretenen Organisationen (Deutsches Kinderhilfswerk, Kinderschutzbund, UNICEF Deutschland, Deutsche Liga für das Kind) appellieren an Bund und Länder, weiter nach einer Lösung zur Aufnahme der Kinderrechte ins Grundgesetz zu suchen. "Es braucht eine starke und eindeutige Formulierung für die Kinderrechte, die unabhängig von den Elternrechten gegen den Staat gelten." 

Kinderrechte sind u.a. im Kinder- und Jugendhilfegesetz geregelt, aber ein Grundgesetz-Artikel fehlt (Archivbild)Bild: Christoph Soeder/dpa/picture alliance

UN-Kinderrechtskonvention als Bezugspunkt

Als wichtiger Bezugspunkt gilt ihnen die 1989 beschlossene Kinderechtskonvention der Vereinten Nationen (UN):

"Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleich viel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist."

Deutschland hat die UN-Kinderrechtskonvention 1992 ratifiziert. Einen eigenen Artikel im Grundgesetz gibt es aber auch fast 30 Jahre später immer noch nicht. Die jetzt verworfene Kompromiss-Formel war aus Sicht von Kinderschutz-Organisationen aber ohnehin zu schwach. In einer Anhörung des Bundestages Mitte Mai hatte das Aktionsbündnis Kinderrechte vor reiner "Symbolpolitik" gewarnt. Nötig sei ein eigener Verfassungsartikel für Kinderrechte, "die unabhängig von den Elternrechten gegen den Staat gelten".

"SOS-Kinderdorf": Deutschland könnte Vorbild sein

Nur so würde man es schaffen, kindgerechte Lebensverhältnisse und bessere Entwicklungschancen für alle Kinder zu schaffen, ihre Rechtsposition deutlich zu stärken, und Kinder an den sie betreffenden Entscheidungen zu beteiligen. Praktisch kann damit beispielhaft gemeint sein, Kinder mitentscheiden zu lassen, ob an einem Ort ein Spielplatz oder eine Tankstelle entstehen soll oder ob eine Umgehungsstraße um eine Wohnsiedlung gebaut wird. "Denn die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen ist ein zentraler Wert einer demokratischen Gesellschaft."

Kinder sind im Grundgesetz-Artikel 6 bislang nur allgemein und unverbindlich erwähntBild: Sascha Steinach/dpa/picture alliance

Auch Sabina Schutter, Vorstandsvorsitzende der global tätigen Organisation "SOS-Kinderdorf" verweist auf die Bedeutung der UN-Kinderrechtskonvention. Sie zeige als völkerrechtliche Vereinbarung, "wie bedeutsam Schutz, Förderung und Beteiligung von Kindern weltweit sind", teilt sie auf DW-Anfrage mit. "Vor dem Hintergrund wäre es dringend erforderlich, dass diese Rechte in Deutschland Verfassungsrang genießen." Allerdings habe der vorgelegte Entwurf der Koalition "deutliche Mängel" aufgewiesen und hätte vermutlich für mehr Probleme gesorgt, als er gelöst hätte. 

Norwegen ist schon weiter

Die Signalwirkung der jetzt verworfenen Ergänzung des Grundgesetzes sei im internationalen Kontext jedoch bedauerlich, "weil Deutschland eine Vorbildfunktion einnehmen könnte". Norwegen zeige, dass der Verfassungsrang von Kinderrechten eine praktische Wirkung entfaltete - auch auf der gesetzlichen Ebene. "Das kann für die deutsche Entwicklung nur Mut machen, sich in der kommenden Legislaturperiode diesem anspruchsvollen Thema zu widmen", hofft Pädagogik-Professorin Sabina Schutter auf einen neuen Anlauf.

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