Kindesmissbrauch: Polens Kirche unter Druck
15. Mai 2019Innerhalb von drei Tagen haben elf Millionen Menschen den Dokumentarfilm gesehen. Nicht auf großer Leinwand oder zur besten Fernsehsendezeit, sondern via Youtube fand die Premiere von "Aber sag es bloß keinem" statt. Schwarmfinanzierung half dem Filmprojekt auf die Beine, nachdem die Autoren keinen Sender fanden, der ihn produzieren wollte. Jetzt reißen sich Journalisten um ein Gespräch mit ihnen. Seitdem sie am vergangenen Wochenende ins Netz gestellt wurde, ist die Dokumentation in aller Munde. "Ich glaube, es gab gerade Bedarf nach so einem Film. In den Medien erschienen immer mehr Beiträge zum Thema und auch der Film 'Klerus' veränderte den Ton der Diskussion", so Regisseur Tomasz Sekielski. Bei den Youtube-Trends in Polen kletterte der Film aus dem Stand auf Platz eins, aber auch in anderen Ländern, wie Island, Irland oder Norwegen steht er ganz oben auf der Liste. Die Version mit englischen Untertiteln geht um die Welt.
Dem Peiniger in die Augen schauen
Den Brüdern Sekielski (Marek ist Produzent) ist es dabei gelungen, Missbrauchsopfer nicht nur vor die Kamera zu bringen, sondern sie auch mit ihren Peinigern zu konfrontieren. Inzwischen hochbetagte Täter stehen in dem Film ihrer eigenen Vergangenheit gegenüber. Nach jahrelangem Schweigen offenbaren die Protagonisten des Films intimste Details. "Ich war sieben oder acht. Sie haben mich angefasst, da wo man nicht anfassen sollte, an intimen Stellen", sagt die 39-jährige Anna und schaut dabei in die Augen ihres Peinigers. Erst nach einigen Anläufen nennt Sie den Übergriff beim Namen: "Sie haben mit meiner Hand masturbiert." Der Priester, der etwas betreten vor ihr sitzt, wirkt auf eine Art gefasst, als habe er diesen Tag lange erwartet, vielleicht befürchtet, vielleicht sogar Läuterung erhofft. Mit Händen vor seinem Gesicht fragt der Priester im Film: "Was soll ich jetzt tun?" Er bereue seine Taten und bete häufig für diejenigen, die er misshandelte. Wäre Anna früher zu ihm gekommen, als er noch bei Kräften war, würde er es "irgendwie wiedergutmachen". "Haben Sie mir gerade Geld angeboten?" entrüstet sich Anna. Kein Geld könne das wieder gut machen.
Dicke Mauern der Kirche
Seither spricht ganz Polen über diesen Film - und nicht nur im Internet. Für ein Land, in dem sich immer noch ca. 90 Prozent zum Katholizismus bekennen und das Wort des Priesters zumal auf dem Land nach wie vor Gewicht hat, ist diese neuerliche, unter die Haut gehende Thematisierung des Missbrauchs nichts anderes als ein gesellschaftliches Erdbeben. Nicht nur wegen der persönlichen Geschichten der Opfer, sondern auch, weil der Film Mechanismen enthüllt, Widerstände innerhalb der Kirche, auf die die Opfer stoßen: Verschlossene Türen, das Sich-Schützend-vor-die-Täter-Stellen, allgemeines Misstrauen gegenüber den Opfern und ihren Geschichten - dies und anderes zeigt der Film ebenso eindringlich wie er die eigentlichen, teils haarsträubenden Missbrauchsfälle nacherzählt.
"Pädophilie in der Kirche ist immer ein systemisches Problem", so der Jesuitenpriester Jacek Prusak im Gespräch mit dem Privatsender TVN24. "Man sollte es nicht auf die Täter reduzieren. Das ist nämlich nur eine Seite der Medaille. Die andere ist die Institution, in der sie die Taten verüben, die ihnen ihr Tun erleichtert oder sogar rechtfertigt."
Denn das Verdrängen und Verschweigen, das schon der Film "Klerus" am fiktiven Beispiel anprangerte (https://www.dw.com/de/polen-film-heizt-missbrauchsdebatte-an/a-45678388) wird von der in der Dokumentation gezeigten Realität noch übertroffen. Der Film zeigt nämlich, wie ein wegen Kindesmissbrauch verurteilter Geistlicher, der im Gefängnis saß, andernorts erneut in der Kinder- und Jugendseelsorge eingesetzt wurde. Mit versteckter Kamera gefilmt, sieht man ihn wieder vor Kindern in der Kirche. Nun hat der Mann selbst seine Entlassung aus dem Priesterstand beantragt.
Mutig kontra "wertlos"
Auf Reaktionen seitens der Kirchenführung musste man nicht lange warten. Polens Primas, Wojciech Polak, reagierte sehr schnell. Vor der Film-Premiere war das noch anders gewesen. Wie von so vielen Kirchenoberen, bekamen die Autoren auch von ihm eine Absage. Am Ende der Dokumentation präsentiert Sekielski die offizielle Antwort des Episkopats, der Film sei parteiisch. Nach der Internet-Premiere dann die 180-Grad-Wende. Die Kirchenspitze entschuldigte sich noch am Wochenende bei den Opfern; Primas Polak bedankte sich beim Filmemacher für seinen "Mut" und zeigte sich bewegt. "Das große Leiden der Opfer erweckt das Gefühl von Schmerz und Scham. Ich danke allen, die den Mut haben von ihrem Leiden zu erzählen. Ich entschuldige mich für jede Wunde, die von Kirchenmännern zugefügt wurde", so Polak in einer schriftlichen Erklärung.
In ähnlichem Ton äußerte sich der Vorsitzende der Bischofskonferenz, Stanislaw Gadecki. Ganz anders dagegen der Danziger Erz-Bischof Leszek Glodz, der dem ultrakonservativen Zweig der katholischen Kirche in Polen zugerechnet wird. Einer Reporterin erklärte er, dass er anderes zu tun habe, als sich "Wertloses" anzusehen. Ein paar Stunden später zeigten Politiker der linksliberalen Partei "Frühling" den Film vor Glodz´s Haus. Unter den Parteien, denen im Herbst der Einzug ins Parlament zugetraut wird, ist die Neugründung die, die am deutlichsten kirchenkritisch auftritt.
Werden nach Worten Taten folgen?
Selbst Grzegorz Schetyna, der Chef der größten Oppositionspartei "Bürgerplattform", die oft erkennbar um ein gutes Verhältnis zur Kirche bemüht war, ging vorsichtig auf Distanz: "Der Kampf gegen Pädophilie ist kein Kampf mit der Kirche, aber um Kinder zu verteidigen, werden wir vor niemandem Halt machen." Mehrere Oppositionsparteien fordern einen erweiterten Untersuchungsausschuss, dem auch Opfervertreter angehören sollten. Auch der Zugang zu den Kirchenarchiven wurde in diesem Zusammenhang bereits gefordert.
Die Premiere des Films kommt mitten in einer politisch heißen Zeit Polens. Die Europawahl steht an, im Herbst folgen die Parlamentswahlen und im nächsten Jahr soll der Präsident gewählt werden. Die regierende PiS-Partei, die sich gern als Bewahrerin von Glaube und Kirche präsentiert, gibt sich nun als treibende Kraft im Kampf gegen Kindesmissbrauch in den Reihen der katholischen Kirche. Seine Partei kämpfe doch gegen den Missbrauch, so PiS-Parteichef Jaroslaw Kaczynski bei einem Wahlkampfauftritt, bei dem er strengere Strafen andeutete. "Besonders streng bestraft werden diejenigen, die für Kinder verantwortlich sind, und das gilt auch für Priester, aber auch für Prominente. Wir wollen erbarmungslos streng sein. Aber bedeutet das, dass Straftaten einiger Priester zu Angriffen auf die Kirche berechtigen? Dass man jetzt Katholiken beleidigen darf? Nein!"
Inzwischen brachte das Kabinett von Regierungschef Mateusz Morawiecki tatsächlich Strafrechtsänderungen auf den Weg. Künftig sollen Missbrauchstätern bis zu 30 Jahre Haft drohen, eine Verjährung soll es nicht mehr geben und das schutzwürdige Alter wurde von 15 auf 16 Jahre erhöht.
Eines zeichnet sich bereits ab: Nach diesem Film kann man nicht mehr schweigen und das Thema unter den Teppich kehren. Zumal die Autoren eine Fortsetzung planen. Auch ein Buch soll erscheinen. Es sind einfach zu viele Geschichten, als dass sie in zwei Stunden erzählt werden könnten. Es sind Geschichten, die die Kirche lange für sich behielt. Vielleicht zu lange, um nicht zu verspielen, was sie stets auch war: ein Ort des Vertrauens, des Halts und Trostes.
Der Priesterstand, klagt ein kircheninterner Kenner der Thematik, werde inzwischen zuallererst mit "Pädophilie" assoziiert. Die Folge: immer weniger Seminaristen, die scharenweise Abwendung der Jugend von der Kirche im allgemeinen und dem Religionsunterricht im besonderen. Nach polnischen Maßstäben ist es eine rasante Säkularisierung.