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Kirche und Sex: Ein Bischof will Reformen

Srecko Matic | Christoph Strack
13. November 2022

Die deutschen Bischöfe reisen zum Papst und sprechen mit ihm über das Reformprojekt "Synodaler Weg". Der Aachener Bischof Helmut Dieser mahnt im DW-Interview: "Wir dürfen die Stimme des Volkes Gottes nicht ignorieren."

Helmut Dieser
Der Aachener Bischof Helmut Dieser im DW-Interview Bild: Srecko Matic/DW

Der Aachener Bischof Helmut Dieser plädiert für eine neue Sicht der katholischen Kirche auf Sexualität und Homosexualität. "Gleichgeschlechtliches Empfinden und Lieben ist keine Verirrung, sondern eine Variante menschlicher Sexualität", sagt der Bischof in einem Interview der Deutschen Welle in Aachen. Vom 14. bis 18. November ist Dieser mit den anderen deutschen Bischöfen im Vatikan und bei Papst Franziskus. Im Interview sagt er, was er dem Kirchenoberhaupt nahebringen will.

Deutsche Welle: Bischof Dieser, es herrscht Krieg in Europa, seit vielen Monaten. Menschen sorgen sich um ihre Zukunft. Wie bewegt Sie das?

Ich habe echte Sorge. Auch, dass wir die Krise in ihrer Spitze noch längst nicht erreicht haben. Unsere Gesellschaften stehen vor sehr großen Herausforderungen. Ich hoffe, dass klar wird: Wir alle zusammen brauchen einander, um zu leben. Und dass wir als Kirche zu dieser Gemeinsamkeit des Menschseins beitragen können.

Zerstörungen in Pokrovsk im Osten der UkraineBild: Andriy Andriyenko/AP Photo/picture alliance

Derzeit geht es oft um Unterstützung für die Ukraine durch Waffen. Zu oft? Vermissen Sie diplomatische Bemühungen?

Wenn eine Weltmacht wie Russland einen solchen Krieg gegen einen schwächeren Nachbarn beginnt, dann verunmöglicht das zunächst die Diplomatie. Das muss man akzeptieren, so schmerzhaft das ist. Die Ukraine hat ein Recht, sich militärisch zu verteidigen. Und sie braucht dabei auch unsere Unterstützung. Im Grunde genommen verteidigt sie ja nicht nur ihr eigenes Land, sondern auch uns hier in Westeuropa und unsere Wertvorstellungen. 

Die politischen Kontroversen in Deutschland werden schärfer, wegen des Krieges, aber auch wegen etwaiger Einschränkungen. Haben Sie gelegentlich Sorge um die parlamentarische Demokratie?

Ja. Die Demokratie lebt davon, dass es gemeinsame Überzeugungen und Grundwerte gibt. Und wenn diese Grundlagen immer schärfer bestritten werden, entkräftet das die Demokratie. Wir müssen alle wachsam sein und die Dinge sehr früh beim Namen nennen. Dabei muss die Kirche ein Mahner des demokratischen Grundverständnisses sein.

Bischof Dieser zum Krieg in der Ukraine

00:39

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Dabei ist – Stichwort Synodaler Weg und Reformen – die katholische Kirche selbst im Umbruch. Im Ausland werden die Bemühungen der Kirche in Deutschland zum Teil skeptisch gesehen. Was möchten Sie erreichen?

Der Synodale Weg ist ja eine Folge der Aufdeckung der Missbrauchsskandale. Und belastbare wissenschaftliche Studien zeigen, dass diese Skandale systemische Ursachen in der Kirche haben. Da kamen dann Fragen hinzu, die schon lange nach Antworten rufen. Das gilt zum Beispiel für die Bewertung der Sexualität des Menschen. Zeitgemäße Antworten sind da überfällig.

Was heißt "zeitgemäß"?

Bischof Dieser beim DW-InterviewBild: Christoph Strack/DW

Der jetzige Stand der kirchlichen Lehre wird im Bereich der Sexualität des Menschen bestimmten Wirklichkeiten nicht gerecht. Er ist einfach unterkomplex. Das gilt zum Beispiel für die Frage der Homosexualität. Wir können doch nicht homosexuellen Menschen die Antwort geben, dass ihr Empfinden unnatürlich wäre und sie deshalb unbedingt enthaltsam leben müssten. Als Kirche müssen wir diese Fragen neu beantworten.

Sie haben kürzlich gesagt, Homosexualität sei gottgewollt. Was meinen Sie damit?

Homosexualität ist - das zeigt die Wissenschaft - keine Panne, keine Krankheit, kein Ausdruck eines Defizits, übrigens auch keine Folge der Erbsünde. Dann muss ich doch sagen: Die Welt ist bunt, und die Schöpfung ist vielfältig. Und dann darf ich auch im Bereich der Sexualität eine Vielfalt annehmen, die von Gott gewollt ist und nicht gegen den Schöpferwillen verstößt.

"Gleichgeschlechtliches Lieben ist keine Verirrung"

Gott hat eigentlich nichts dagegen, wenn ein Mann einen Mann oder eine Frau eine Frau liebt?

Gleichgeschlechtliches Empfinden und Lieben ist keine Verirrung, sondern eine Variante menschlicher Sexualität.

Wenn auch Menschen, die nicht heterosexuell sind, von Gott gewollt sind, dann darf die Kirche es ihnen durch Segen oder Begleitung deutlich machen?

Ja. Beides ist sehr wichtig. Und zur Seelsorge für alle Menschen gehört die Zusage: Gott liebt dich, wie du bist, und so wie du jetzt bist, bist du angenommen. Denn das ist die Chance des Lebens: Du selbst zu sein und zu wachsen. Das gilt für queere Menschen wie für heterosexuelle Menschen.

Hat sich Ihre persönliche Sicht auf das Thema im Laufe der Zeit geändert?

Ja, gewiss. Ich war lange der Meinung, Homosexualität sei eine Einschränkung in der männlichen oder weiblichen Identität. So habe ich oft gedacht. Aber vor allem bei jungen Menschen habe ich gespürt, wie inakzeptabel das war. Das hat mich intensiv beschäftigt. Und ich habe gelernt, dass solche Sichtweisen theologisch eben nicht zwingend sind.

Bischof Dieser zur Homosexualität

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Wie passt das nun in Ihr theologisches Denken?

Die Wirklichkeit scheitert nicht an Gott, und Gott scheitert nicht an der Wirklichkeit. Von diesem Glaubenssatz bin ich zutiefst überzeugt. Wir glauben an einen Gott, der sich in diese Welt inkarniert hat, der also unser Mensch-Sein angenommen hat. Uns muss das eine solche Zuversicht geben, dass wir uns der Realität des Menschseins getrost stellen. Und dabei gilt immer: Christus ist größer als jede Lehre über ihn.

Konkret: Was sagen Sie zwei lesbischen Frauen, die sich beim Bischof melden und ihr Kind taufen lassen wollen?

Mich würde erstens freuen, dass das Kind geboren ist. Zweitens, dass die beiden das Kind taufen lassen wollen. Drittens würde ich mit ihnen überlegen: Wie könnt ihr dafür sorgen, dass euer Kind den Glauben kennenlernt und hineinwächst? Und viertens würde ich das Kind taufen. Wo ist das Problem, frage ich. Wo ist jetzt das Problem?

Na ja, es gibt auch Kirchenleute, die regelrecht gegen Homosexuelle hetzen. Eher in der Orthodoxie, aber gelegentlich auch in der katholischen Kirche.

"Hetzen über Menschen ist gegen das Evangelium"

Ich vermute dahinter Ängste, ein Gefühl der Bedrohung. Die Zumutung ist, umdenken zu müssen, Leben und Realitäten anzuerkennen und nicht nur zu verurteilen. Aber hetzen über Menschen - das ist grundsätzlich gegen das Evangelium.

Patriarch Kyrill stützt den Kurs von Russlands Präsident Wladimir PutinBild: Mikhael Klimentyev/AFP/Getty Images

Derzeit stellt der russisch-orthodoxe Patriarch Kyrill es häufig so dar, als ob die Homosexualität in Westeuropa das Problem wäre und für den Werteverfall stünde.

Der höchste Wert des Evangeliums ist die Liebe und die Annahme des anderen Menschen um seiner selbst willen. Kirche sagt auch homosexuellen Menschen: Gott nimmt dich an, wir nehmen dich an! Ist das Werteverfall - oder ist das die Anwendung christlicher Werte? Ich sehe darin keinerlei Werteverfall. Im Gegenteil: Es ist die Herausforderung unserer Zeit, dass unsere Kirche zeigt, dass sie inklusiv ist. Im Glaubensbekenntnis steht dafür ein altes griechisches Wort: katholisch. Dieses Wort heißt ja eigentlich "umfassend". Kirche ist für alle Lebensraum der Nachfolge Christi.

Nun sind Sie als Bischof von Aachen in einigen Tagen mit allen deutschen Bischöfen bei Papst Franziskus. Was wollen Sie ihm sagen?

Es geht ja bei unserem Synodalen Weg um geistliche Unterscheidung. Franziskus hat uns diese Unterscheidung selbst immer wieder gelehrt und uns dazu ermutigt. Dazu gehört das Vertrauen auf den Geist Gottes, der uns alle führt. Es ist auch ein Lernen. Das braucht Mut. Auch Synodale brauchen Mut, um, wie Papst Franziskus sagt, zu entscheiden, zu wählen. Ich würde ihm gerne verständlich machen, dass ich gerade all das machen will, was er uns vorschlägt. Und ich hoffe, dass er uns da gut zuhört.

Die deutschen Bischöfe, hier bei ihrer Frühjahrsvollversammlung 2022Bild: Nicolas Armer/dpa/picture alliance

Franziskus sagt, die Kirche brauche für Veränderungen Zeit. Nun soll die Synode auf Weltebene erst 2024 enden. Andererseits spüren Sie als Bischof den Erwartungsdruck in Deutschland. Würden Sie den Papst bitten, vorher schon mal ein Zeichen zu setzen?

Hauruck-Lösungen sind immer verdächtig. Davon bin ich kein Freund. Und ich fände es unfair, ihn zu etwas drängen zu wollen.

Noch mal konkret zum Synodalen Weg. Sie galten als der bischöfliche Repräsentant für ein Grundlagenpapier, das für eine offene Haltung angesichts der Vielfalt der Lebensformen, auch homosexueller oder queerer Lebensformen stand. Bei der jüngsten Vollversammlung des Synodalen Weges im September hat mehr als ein Drittel der Bischöfe diesem Dokument die Zustimmung versagt. Damit wurde es nicht beschlossen. Was sagen Sie als einer der wesentlichen Autoren nun dem Papst? Tragen Sie ihm auch diese strittigen Positionen vor?

Ja, natürlich. Auch darüber müssen wir reden. Der Grundtext ist gescheitert. Aber wir haben Texte, die nicht gescheitert sind und die genau das in Handlungsoptionen umsetzen, was im Grundtext steht. Und diese Texte sind ja zum Teil genau an den Papst adressiert. Wir wollen ihn bitten, zum Beispiel den Katechismus in dieser Weise weiterzuschreiben.

"Eine Entwicklung der kirchlichen Lehre"

Bruch mit der Tradition, sagen Kritiker.

Das wird oft so gesagt, Bruch mit der Lehre, der Tradition. Auch darüber würde ich gerne mit Franziskus nachdenken: Ist das wirklich ein Bruch? Oder gibt es eine Entwicklung der Lehre, die dann natürlich auch Meilensteine hat, an denen ein anderes Denken aufscheint und vertiefend die Wahrheit Christi zur Geltung bringt? Klar gibt es da Ängste. Aber denken Sie an das Beispiel der Kopernikanischen Wende. Wie lange hat die Kirche nach der Entdeckung des Kopernikus Angst gehabt, dass die Sonne und nicht die Erde im Zentrum stehen soll? Wie sehr fürchtete sie, dass dies den Schöpfungsbericht der Bibel zertrümmert? Aber irgendwann hat sie gelernt, dass die Wirklichkeit, die der menschliche Geist erforscht, nicht dem Glauben widersprechen kann? Als man diese Wende verstehen konnte, war die Angst überwunden. Und siehe da: Der Schöpfungsbericht ist nicht zerborsten, und noch heute bietet er uns geistliche Nahrung. Keine Naturwissenschaft kann auf Entdeckungen kommen, die die Botschaft Christi aus den Angeln heben könnte. Also: Warum Angst?

Papst Franziskus mit Kardinälen Ende August 2022 im PetersdomBild: Vatican Media/REUTERS

Jetzt reden Sie mit dem Papst und vertrauen auf die größere Wahrheit Gottes. Vor 50 Jahren haben viele Katholikinnen und Katholiken in Deutschland sehr auf die Würzburger Synode und ihre Reformgedanken vertraut und ähnliche Themen nach Rom geschickt. Damals gab es nicht mal eine Bestätigung dieser Schreiben. Was passiert, wenn es jetzt ähnlich verläuft?

Das wäre ein Versagen der Autorität in der Kirche. Wir dürfen die Stimme des Volkes Gottes nicht ignorieren. Und wenn Reformen zu spät kommen, ist das schlimmer, als dass sie kommen.

Wie sehr muss die Kirche auch über das Bild des Priesters mit all seiner Macht nachdenken?

Das ist eines der zentralen Themen des Synodalen Weges. Was ist dieses Amt? Wie ist es theologisch zu verstehen? Und wie wird es heute so gelebt, dass es weder Dominanz über die anderen noch ein Privileg darstellt? Natürlich braucht ein Priester eine Gestaltungsmacht. Aber er muss immer Menschen beteiligen, sie hineinholen und ihr Mitwirken herbeiführen wollen. Kirchlich sagen wir, er muss die Charismen der anderen für das Ganze wirksam werden lassen. Um das mal in ein anderes Bild zu bringen: Er muss dafür sorgen, dass alle ihre PS auf die Straße kriegen. Und dabei in der säkularen Gesellschaft Zeugnis von der Botschaft Christi ablegen. Das muss unser Verständnis von Leitung sein.

Interview: Srecko Matic/Christoph Strack

Helmut Dieser (60), ist seit sechs Jahren Bischof von Aachen und damit einer der 27 katholischen Ortsbischöfe in Deutschland. Zuvor war er fünf Jahre Weihbischof in Trier. Innerhalb der Deutschen Bischofskonferenz ist Dieser seit kurzem Beauftragter für Fragen sexuellen Missbrauchs. Beim Ende 2019 gestarteten "Synodalen Weg", einem durch den Missbrauchsskandal angestoßenen Reformprozess der katholischen Kirche in Deutschland, leitet der Bischof mit ZdK-Vizepräsidentin Birgit Mock das Synodalforum 4, das sich mit dem Themenbereich "Sexualität und Partnerschaft" befasst.