"Kirgisistan ist praktisch regierungslos"
16. Juni 2010DW-WORLD.DE: Wie dramatisch ist die humanitäre Situation für die Flüchtlinge an den Grenzen?
Berhard Rost: Es gibt einen riesigen Flüchtlingsstrom, vor allem in Richtung Usbekistan. 80.000 etwa – die Zahlen schwanken zwischen 60.000 und 80.000 - haben auf der usbekischen Seite Zuflucht gefunden, ungefähr 20.000 warten noch an der usbekischen Grenze, ob sie irgendwo einen Durchlass finden. Bislang haben die usbekischen Grenztruppen das massiv verhindert. Zwar hat sich die Situation in Osch etwas beruhigt, in Dschalalabad ist sie aber immer noch sehr zugespitzt, und es gibt immer wieder Straßenschlachten zwischen vor allem jugendlichen kirgisischen Banden und Usbeken. Beunruhigend ist eine Meldung, die wir heute (16.06.) bekommen haben, wonach die Banden teilweise von Uniformierten geleitet werden. Das macht die Sache noch etwas dramatischer. Hinzu kommt, was in den internationalen Meldungen manchmal etwas zu kurz kommt: Abertausende sind jetzt innerhalb des Landes auf der Flucht, sowohl Kirgisen als auch Usbeken. Die Menschen versuchen, bei Verwandten oder Freunden Unterschlupf zu finden. Wenn man in Bischkek über die Märkte geht, die mehrheitlich von usbekischen Händlern beherrscht werden, merkt man, wie die Situation sich von Minute zu Minute verschärft.
Wenn so viele Menschen auch innerhalb des Landes auf der Flucht sind, bedeutet das dann auch, dass es am Nötigsten fehlt – beispielsweise an Medikamenten oder Nahrungsmitteln?
Die Übergangsregierung in Bischkek hat in den vergangenen Tagen immer wieder zu Hilfsaktionen der Kirgisen aufgerufen, und es gibt wohl auch hin und wieder mal einen LKW, der sich nach Süden auf den Weg macht. Von einer großangelegten Hilfsaktion kann aber keine Rede sein. Es soll zwar erste internationale Hilfseinsätze geben, aber die Situation ist nach wie vor dramatisch.
Die Übergangsregierung wird nicht fertig mit den Unruhen. Die kirgisische Übergangspräsidentin Rosa Otunbajewa hat Russland um Hilfe gebeten. Warum zögert Moskau damit, einzugreifen?
Das hat einen ganz einfachen Grund, und das scheint mir auch in der Berichterstattung bisher etwas zu kurz gekommen zu sein: Die Übergangsregierung ist bislang nicht legitimiert. Das war ja das Projekt, das man durch ein Referendum Ende Juni und durch Parlamentswahlen im September sozusagen eine völkerrechtliche Legitimität herstellt. Bislang gibt es vom völkerrechtlichen Standpunkt gar keine Regierung in Kirgisistan, und Russland will offensichtlich vor einem Einsatz in der hochexplosiven Region Mittelasien keine Fehler machen.
In Zentralasien - und gerade im Ferghana-Tal - leben viele Ethnien auf engem Raum nebeneinander. Wie groß ist die Gefahr, dass die ethnisch motivierte Gewalt jetzt auch auf die Nachbarländer Usbekistan oder Tadschikistan übergreift? Also, dass nicht nur Flüchtlinge dorthin kommen, sondern auch die Gewalt?
Die ist natürlich enorm. Es gab ja immer wieder im Ferghana-Tal, etwa Anfang der 90er Jahre, Eruptionen, ethnische Konflikte, und vor allen Dingen wissen wir ja, dass vor ein paar Jahren der usbekische Präsident Karimow nicht gezögert hat, in Andischan Demonstranten brutal zusammenzuschießen. Ungefähr 600 Menschen sind dabei ums Leben gekommen. Also, auch das sind alles Faktoren, die die Situation außerordentlich explosiv machen; ich erwähne mal nur solche Faktoren wie Massenarbeitslosigkeit, vor allen Dingen unter Jugendlichen, ein unvorstellbares Ausmaß an Korruption, das ist eine Mixtur, die schon zu großer Sorge Anlass gibt.
Die Regierung hat für den 27. Juni ein Verfassungsreferendum geplant. Ist das sinnvoll, nach den jüngsten Ereignissen?
Die Übergangsregierung hat in den letzten Tagen beinahe im Stundenabstand immer wieder betont, dass das Referendum auf jeden Fall durchgeführt wird. Wir wissen jetzt, warum: Man braucht irgendeine Legitimation, das ist völlig richtig. Und die internationalen Organisationen, die unter anderem mit diesem Referendum befasst sind, versuchen natürlich auch ihr Möglichstes, wenigstens auf dieser Ebene zu helfen und dazu beizutragen, dass das Referendum stattfindet - wie auch immer.
Das Interview führte Cordula Denninghoff
Redaktion: Esther Broders / Thomas Latschan