"Klares Signal an alle moderaten Kräfte"
24. September 2014Deutsche Welle: Wie bewerten Sie das Urteil gegen Ilham Tohti?
Es ist ein sehr harsches Urteil. Das Volksgericht hat den vollen regulären Strafumfang ausgeschöpft. In extremen Fällen kann man für diese Anklage – Vorwurf des Separatismus – zum Tode verurteilt werden, aber regulär ist das Höchststrafmaß lebenslänglich, und das ist schon ein sehr hohes Strafmaß.
Welche Folgen hat es für die weitere Entwicklung in Xinjiang?
Das Urteil ist ein klares Signal an alle moderaten Kräfte, auch an jene, die versuchen, selbstorganisiert aus der Bevölkerung heraus mit chinesischen und uigurischen Intellektuellen und Wissenschaftlern eine konstruktive Lösung für die Konflikte und Probleme in Xinjiang zu finden und eine Gewalteskalation dort zu verhindern. Nach diesem Urteil ist zu befürchten, dass dies weitere Proteste und eine weitere Verhärtung innerhalb der uigurischen Gemeinschaft nach sich zieht und dass möglicherweise mit weiteren Anschlägen und Gewaltattacken zu rechnen ist.
Warum riskiert die chinesische Führung mit diesem Urteil solche Folgen?
Diese Entwicklungen sind der chinesischen Regierung sicher nicht unbekannt. Ilham Tohti ist jemand, der immer für eine moderate Politik innerhalb Xinjiangs eingetreten ist, der auch davor gewarnt hat, dass wenn die uigurische Bevölkerung weiterhin diskriminiert und marginalisiert bzw. ihre kulturellen und religiöse Freiheit bechränkt wird, dass sie sich dann radikaleren islamischen Strömungen zuwendet.
Aber Tohti ist auch jemand, der sehr gut vernetzt ist, auch mit Han-chinesischen Intellektuellen und Bürgerrechtlern, und nach seinen eigenen Angaben auch innerhalb des Führungsapparates mit Politikern auf unterschiedlichen Ebenen. Das kann bzw. will die chinesische Zentralregierung nicht dulden. In dieser Hinsicht gibt es Parallelen zum Fall Liu Xiaobos – dieser war ähnlich vernetzt und hat versucht, Allianzen mit moderaten Führungskräften innerhalb des chinesischen Staatsapparates und mit anderen Bürgerrechtlern in China zu schmieden. Die chinesische Regierung setzt hier ein klares Signal.
Wie sehen sie den Vorwurf Pekings, in Xinjiang seien Terroristen am Werk?
Die Befürchtung Pekings, dass auch Xinjiang vermehrt Ziel terroristischer Anschläge wird, ist nicht ganz unberechtigt. So hat der "IS" in einer von ihm veröffentlichten Landkarte recht früh auch Xinjiang als Ziel der Eroberung ausgewiesen und auch angekündigt, dass aufgrund der Verfolgung von Muslimen in China auch dieses Land ein Ziel für Anschläge ist. Es gibt Berichte in chinesischen Staatsmedien und teilweise auch in der internationalen Presse, dass Uiguren sich mit ausländischen Extremisten vernetzen und als Kämpfer der „IS“ verhaftet worden sind.
Auf der anderen Seite gibt es bei vielen der Gewaltattacken innerhalb Chinas keine klaren Beweise, dass es sich dabei um terroristische Anschläge handelt. So furchtbar diese Gewaltattacken, wie wir sie in Kunming und verschiedenen Orten in Xinjiang gesehen haben, auch sind, so muss man doch genau prüfen, ob sie terroristisch motiviert, ob sie von außen unterstützt sind, oder ob es sich um Akte der Frustration, der Rache einer marginalisierten Bevölkerungsgruppe in Xinjiang handelt.
Die Anschläge dieses Jahres haben sich vor allem gegen Zivilisten gerichtet. Ist das eine neue Stufe des Widerstands der Uiguren?
Wir haben nach wie vor beides, also auch Anschläge, die sich gegen staatliche Ziele und Institutionen richten. Aber diese Gewaltanschläge gegen die Zivilbevölkerung sind eine sehr beunruhigende Entwicklung. Ich sehe zwei mögliche Erklärungsmuster: Racheakte und Akte aus Frustration von Uiguren, die entweder Opfer von Verfolgung oder Verdächtigung geworden sind, möglicherweise auch private Fehden ausgetragen haben und sozusagen diese Aktionen nutzen, um ihrem Frust und ihrer Wut bzw. ihrer Sorge und Angst Luft zu machen, das ist das eine.
Der zweite Erklärungsansatz ist, dass lokale radikale islamische Gruppen, möglicherweise auch mit Unterstützung von ausländischen terroristischen Organisationen, durch solche Attacken eine Atmosphäre der Angst verbreiten wollen und China nun als Ziel von gezielten terroristischen Anschlägen stärker ins Visier nehmen.
Was könnte Peking tun, um die Lage in Xinjiang zu beruhigen?
Es gibt zwei Bereiche, in denen die chinesische Regierung aktiver werden könnte. Die wurden auch auf der jüngsten Arbeitskonferenz zu Xinjiang im Mai dieses Jahres benannt. Xi Jinping sprach davon "die Arbeit im Bereich Religion gut zu machen". Die Frage ist aber, was "gut" genau heißt. Der Bereich der Religion sollte nicht pauschal kriminalisiert werden. Die Regelungen in einigen Städten Xinjiangs, dass Männer mit langen Bärten und verschleierte Frauen nicht mit öffentlichen Bussen fahren dürfen, provoziert die uigurische Bevölkerung unnötig. Auch sollte die chinesischen Regierung auch Uiguren im Staatsdienst oder auch Studierenden nicht das Fasten im Monat Ramadan verbieten.
Der zweite Bereich ist der Zugang zu Arbeitsplätzen und zum Bildungssystem, da bemüht sich die chinesische Regierung seit Jahren um eine Verbesserung der Lage für Uiguren. Dennoch legte die Regierung der autonomen Region Xinjiang für 2013 Statistiken vor, wonach bei Aufnahmeprüfungen für den Staatsdienst nur ein Drittel der Stellen für Uiguren offen sind. Quoten für Uiguren im Staatssektor machen sie zu Arbeitern 2. Klasse. Manche chinesische Unternehmen tricksen bei der Angabe ihrer Angestelltenstruktur, weil sie aus Misstrauen keine Uiguren einstellen wollen oder keine adäquat qualifizierten uigurischen Bewerber finden. Es müssten die Anreize für junge Uiguren erhöht werden, gut Chinesisch zu lernen, damit sie auf dem Arbeitsmarkt mit besser bezahlten Jobs Fuß fassen können.
Kristin Shi-Kupfer ist Leiterin des Forschungsbereichs Gesellschaft und Medien beim Mercator Institut für China-Studien MERICS in Berlin