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Klassenkämpferin als Literatin - Rosa Luxemburgs Briefe

15. Januar 2009

Die Vollblutpolitikerin war intellektuell brillant und literarisch begabt. Davon sprechen Hunderte von Briefen, die sie aus dem Gefängnis schrieb und an Freundinnen, über ihr Leben und ihre Träume. Eine Kostprobe.

Porträt Rosa Luxemburg von 1905, koloriert
Rosa Luxemburg im Jahr 1905Bild: picture-alliance/ akg-images

"Damals zu Hause schlich ich mich in der frühesten Morgenstunde ans Fenster - es war ja streng verboten, vor dem Vater aufzustehen -, öffnete es leise und spähte hinaus in den großen Hof. Da war freilich nicht viel zu sehen. Alles schlief noch, eine Katze strich auf weichen Sohlen über den Hof, ein paar Spatzen balgten sich mit frechem Gezwitscher, und der lange Antoni in seinem kurzen Schafpelz, den er Sommer und Winter trug, stand an der Pumpe, beide Hände und Kinn auf den Stiel seines Besens gestützt, tiefes Nachdenken im verschlafenen, ungewaschenen Gesicht.

Dieser Antoni war nämlich ein Mensch von höheren Neigungen. Jeden Abend nach Torschluss saß er im Hausflur auf seiner Schlafbank und buchstabierte laut im Zwielicht der Laterne die offiziellen "Polizeinachrichten", dass es sich im ganzen Hause wie eine dumpfe Litanei anhörte. Und dabei leitete ihn nur das reine Interesse für Literatur, denn er verstand kein Wort und liebte nur die Buchstaben an und für sich. Trotzdem war er nicht leicht zu befriedigen.

Und als ich ihm einmal auf seine Bitte um Lektüre Lubbocks "Anfänge der Zivilisation" gab, die ich gerade als mein erstes "ernstes" Buch mit heißer Mühe durchgenommen hatte, da retournierte er es mir nach zwei Tagen mit der Erklärung, das Buch sei "nichts wert". Ich meinerseits bin erst mehrere Jahre später dahinter gekommen, wie recht Antoni hatte. -

Also Antoni stand immer erst einige Zeit in tiefes Grübeln versunken, aus dem er unvermittelt zu einem erschütternden, krachenden, weithallenden Gähnen ausholte, und dieses befreiende Gähnen bedeutete jedes Mal: Nun geht’s an die Arbeit. Ich höre jetzt noch den schlürfenden, klatschenden Ton, womit Antoni seinen nassen, schiefgedrückten Besen über die Pflastersteine führte und dabei immer ästhetisch, am Rande sorgfältig zierliche, ebenmäßige Bögen beschrieb, die sich wie eine Brüsseler Spitzenborte ausnehmen mochten. Sein Hofkehren, das war ein Dichten. Und das war auch der schönste Augenblick, bevor noch da öde, lärmende, klopfende, hämmernde Leben der großen Mietskaserne erwachte. Es lag eine weihevolle Stille der Morgenstunde über der Trivialität des Pflasters: oben in den Fensterscheiben glitzerte das Frühgold der jungen Sonne, und ganz oben schwammen rosig angehaucht duftige Wölklein, bevor sie im grauen Großstadthimmel zerflossen.

Damals glaubte ich fest, dass das "Leben", das "richtige" Leben, irgendwo weit weg ist, dort über die Dächer hinweg. Seitdem reise ich ihm nach. Aber es versteckt sich immer hinter irgendwelchen Dächern. Am Ende war alles ein frevelhaftes Spiel mit mir, und das wirkliche Leben ist gerade dort im Hofe geblieben, wo wir mit Antoni die "Anfänge der Zivilisation" zum ersten Male lasen?"

Rosa Luxemburg an Luise Kautsky, eine ihrer engsten Freundinnen, im September 1904

 

Literatur: Rosa Luxemburg, Gesammelte Briefe, Bd. 1-5, Dietz Verlag Berlin, 1984. Neu: Karl Dietz Verlag Berlin, www.dietzberlin.de