Klassiker entstaubt: Karen Duves neuer Roman
17. Oktober 2018Mit dem Roman "Die Judenbuche" (1842) wurden und werden Millionen deutsche Schüler und Germanistik-Studenten konfrontiert - er gehört zum klassischen Lehrstoff der Schulen und Universitäten hierzulande. Die Verfasserin der "Judenbuche", die Schriftstellerin Annette von Droste-Hülshoff (1797 - 1848), ist eine der wenig bekannten Autorinnen der großen deutschen Literaturepoche der Klassik/Romantik.
In ihrem fast 600 Seiten starken Roman "Fräulein Nettes kurzer Sommer" stellt uns Karen Duve diese Schriftstellerin vor, als eine der wenigen Frauen inmitten einer Schar kluger und weniger kluger Männer, Dichter und Denker, aber auch Scharlatane und Großmäuler.
Familienroman vor zeithistorischem Hintergrund
Der Roman ist auch ein ausufernder Familien-Roman, in dessen Zentrum die für ihre Zeit aufmüpfige Annette steht: Sie ist offenbar mit einem größeren literarischen Talent gesegnet als ihre männlichen Kollegen. Vielleicht wird ihr auch das im Roman zum Verhängnis. Im Zentrum des Buches wird beschrieben, wie die zartfühlende und bis über beide Ohren verliebte Annette durch eine böswillige Intrige hinters Licht geführt wird. Ein Schock, von dem sich die Dichterin viele Jahre nicht erholen sollte.
Deutsche Welle: Liest man Ihr Buch, fallen einem einige Parallelen auf - zwischen Heute und der Zeit vor 200 Jahren, zwischen der Stellung der Frau in einer Männerwelt gestern und heute, Parallelen auch zwischen Zeiten, die sich rasend schnell verändern. War das von Anfang an beabsichtigt?
Karen Duve: Das hat bei der Auswahl des Stoffes fast überhaupt keine Rolle gespielt. Aber während ich das dann schrieb, drängte es sich einfach auf: Dass die Leute an allem zweifeln, dass alles so kompliziert ist, so komplex. Es kamen ganz viele Sachen auf, die einem bekannt vorkamen: vom Burnout bis zur Depression; das Jammern darüber, dass plötzlich alles so hektisch ist - und das zu einer Zeit, als es noch nicht mal Eisenbahnen gab! Also im Grunde ähnliche Themen wie heute. Auch wenn das natürlich auf einem anderen Niveau stattfand, aber mit dem gleichen Kummer, mit der gleichen Vehemenz vorgetragen. Das war eine Zeit, die durch den aufkommenden Patriotismus und Nationalismus und die Herausbilden einer eigenen Identität nicht mehr lustig und anheimelnd war. Diese neue Identität stützte sich am liebsten auf dem Abgrenzen von Anderen: 'Deutschland' hieß damals vor allem Nicht-Franzose sein, Nicht-Jüdisch sein, nicht kritisch zu Turnvater Jahn Stellung beziehen.
Ihr Roman stellt Annette von Droste-Hülshoff ins Zentrum. Was hat Sie an der Dichterin als literarische Figur gereizt?
Die Intention war, ihr Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Dabei hat sie mich gar nicht so sehr als Person interessiert, sondern eher das Ereignis, also diese unglückliche Jugendliebe, die ihr passiert ist - zu einer Zeit, als sie noch nicht bekannt war und die so fürchterliche, tragische Konsequenzen hatte. Obwohl alles, was damals war oder gewesen sein könnte - so genau weiß man das ja nicht - aus heutiger Sicht unglaublich banal ist.
Aber die Folgen waren eben katastrophal für sie persönlich, traumatisch geradezu, so dass sie danach jahrelang nicht mehr geschrieben hat. Das muss schon richtig gesessen haben, was ihr da angetan wurde, so hässliche "moderne" Sachen wie Mobbing, familiäres Mobbing!
Wie konnte das passieren in der weitverzweigten, aufgeklärten Familie Droste-Hülshoff?
Meine Theorie war, dass da eine sehr begabte Familie ist, aber dass Annette eben das einzige Genie war, und dass alle diese Begabten einen kleinen Groll gegen sie hatten. Die Männer, aber auch die Frauen, weil Annette sich ihrer Rolle so entzogen hat. Dass alle so wütend über sie waren und dieses Gefühl hatten: 'Mensch, die hält sich nicht an die Regeln! Und die kommt damit auch noch durch!'
Moderne Themen also auch in einem Roman über klassische deutsche Literatur - wie blickt man heute auf diese Zeit?
Es war zwar gar nicht meine Intention - es ging wirklich nur um dieses eine Ereignis (das Liebesleid der Annette, A.d.Red.). Aber wenn man aus der Vergangenheit berichtet, dann kann man ganz entspannt drauf schauen, weil man nicht mehr in der Zeit drin steckt. Die Sachen liegen einfach ganz klar auf der Hand. Das wechselte damals von der Ständegesellschaft zur Leistungsgesellschaft und die Aufklärung hatte schon stattgefunden.
Früher, vor der Aufklärung, gab es die Begründung: Die Frau ist dem Mann untertan, weil Gott es so gesagt hat. Nun, nach der Aufklärung, konnte man das einfach durch "quasi-wissenschaftliche Belege" ersetzen. Man konnte das plötzlich alles "belegen", weil es "naturwissenschaftlich" ist. Man will eigentlich immer das gleiche und verändert nur die Art, wie man versucht, seine Interessen durchzusetzen, wie man versucht, jemanden abzuwerten, je nachdem, was einem gerade zu Verfügung steht. Das ist schön zu verstehen, wenn man nicht gerade selbst in der Zeit drin steckt.
…also über den Umweg der Vergangenheit etwas aus der Gegenwart beschreiben?
Wenn man das in der heutigen Zeit macht, müsste man unheimlich viel erklären, weil die Leute es einfach nicht sehen wollen. Hier passt das schöne Bild: Den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen. Das ist gerade in der Beziehung zwischen Männern und Frauen ein sehr passendes Bild. Da geht es immer gleich hoch her, weil man einfach Dinge für selbstverständlich ansieht. Wenn das alles ein bisschen weiter weg ist, sieht man ganz entspannt darauf und dann kommt aber doch der Gedanke: 'Aha, das kommt mir bekannt vor! Wieso ist das heute immer noch so, wenn das damals schon so war?'
Wie hat sich das im Leben der Annette von Droste-Hülshoff bemerkbar gemacht?
Ein Beispiel ist das große Schuldgefühl, das sie hat. An dieser Intrige - egal wie sie genau stattgefunden hat - waren auf jeden Fall mehrere Menschen beteiligt. Und Annette ist aber fest davon überzeugt, dass sie diese Schuld ganz auf sich nehmen muss, sie fühlt sich dafür verantwortlich und lässt nichts auf irgendeinen anderen kommen. Das findet man ja auch heute wieder, zum Beispiel in Gewalt-Ehen, wo Frauen irgendwie denken: 'Ja, ich hab ihn doch provoziert.' Viele Frauen denken immer noch, sie hätten die Verantwortung dafür, dass etwas nicht harmonisch abläuft.
Haben Sie damals beim Schreiben auch an MeToo gedacht?
Weniger. Aber es ist natürlich eine interessante Debatte. Auch wegen dieses verzweifelten Aufschreis, wo viele sagen: 'Was darf man denn heute überhaupt noch?' Ich glaube, dass die meisten (Männer) ganz genau wissen, was man darf. Und wenn es mal daneben gegangenen ist, dann entschuldigt man sich einfach. Und wenn man sich nicht sicher ist, ob irgendwas angebracht ist oder nicht, dann lässt man es halt lieber - oder man fragt. Man fragt ja sogar am Tisch, ob man das Salz bekommt - da kann man auch mal fragen, ob man jemanden küssen darf! Das kann auch etwas ganz Romantisches und Nettes sein.
Und wenn man denkt, es muss jetzt etwas Wildes sein, zum Beispiel plötzlich jemanden an sich reißen, dann muss man aber sehr genau hinschauen, wie das auch ankommt. Ich glaube, dass jeder dazu in der Lage ist. Das ist so eine Scheindebatte - um zu sagen: 'Meine Güte, jetzt beschwert Euch doch nicht, und beschwert Euch auch nicht, wenn das vor 30 Jahren passiert ist.'
Das ist nämlich auch so eine Sache. Die Frage: 'Warum könnt Ihr erst jetzt darüber reden? Das ist doch über 30 Jahre her. Warum müsst ihr das jetzt rausholen?' Das heißt doch, dass man Frauen immer erst glaubt, wenn 10.000 gleichzeitig sagen: 'Mir ist das auch passiert.' Erst dann sagt man: 'Aja, da könnte etwas dran sein.' Viele haben wirklich keine Vorstellung davon, wie weibliche Realität wirklich aussieht. Ich finde, wenn das 100 oder 200 Frauen machen, dann darf man schon irgendwie glauben, dass da etwas dran ist.
Das Gespräch führte Jochen Kürten
Karen Duve: Fräulein Nettes kurzer Sommer, 584 Seiten, Galiani Verlag Berlin, ISBN 978-3-86971-138-6.