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KulturGlobal

Kleine Geschichte des Stelzenlaufens

27. Juli 2024

Zum Tag des Stelzenlaufens: Warum eine uralte Tradition bis heute die Menschen begeistert - in allen Teilen der Welt.

Vier Stelzenläuferinnen während eines Straßenumzugs in Rio, hinter ihnen eine Reihe von Trommlern
Stelzenlaufen reizt nicht nur Kinder: Auch viele Erwachsene schwingen sich bei besonderen Anlässen gerne auf StelzenBild: Bruna Prado/AP/picture-alliance

Das Stelzenlaufen gehört zu einer wenig beachteten Tradition, obwohl Menschen weltweit seit Jahrhunderten auf Stelzen unterwegs sind. Wohl auch, weil die Herstellung von Stelzen keine speziellen Materialen oder tieferes Wissen erfordert. Schon Kinder können sich eigene Stelzen schnitzen und damit über sich hinauswachsen. In der einfachsten Variante bestehen sie nur aus zwei stabilen Stöcken mit einer Astgabel, auf der die Füße abgestellt werden.

Wer hat's erfunden?

Eine bestimmte Epoche oder Region, aus der das Stelzenlaufen hervorgegangen ist, gibt es nicht. Verschiedene Volksgruppen sind unabhängig voneinander auf die Idee gekommen, sich größer zu machen und vom Boden abzuheben. Ihre Gründe variierten. Manche wollten besser durch unwegsames Gelände kommen, andere trugen Stelzen bei rituellen Tänzen.

In der römischen Antike etwa war das Stelzenlaufen ein beliebtes Kinderspiel. Jugendliche Maori aus Neuseeland lieferten sich Rennen und Kämpfe auf Stelzen, noch bevor die Europäer die Insel zum ersten Mal betraten. Die Maya, eine Gruppe indigener Völker Südamerikas, verwendeten Stelzen vermutlich im Kontext ritueller Zeremonien. In China wurden Stelzen ursprünglich in der Landwirtschaft genutzt. Die Menschen pflückten auf Stelzen Obst von den Bäumen und stellten sich zum Fischen ins Wasser. Inzwischen hat sich der Stelzentanz in China zu einer Kunstform entwickelt und ist fester Bestandteil von Frühjahrsvolksfesten.


Zur Feier des Tages: Chinesische Stelzentanzgruppe begrüßt das neue Jahr beim FrühlingsfestBild: Zhu Xudong/picture-alliance

Indische Stelzenläufer halten einen Weltrekord

Auch das Volk der Karbi, das im ostindischen Assam in sehr einfachen Verhältnissen lebt, hat eine lange Stelzentradition, die ihm im Februar 2024 zu einem Eintrag im Guinnessbuch der Rekorde verhalf. 721 Menschen liefen in Trachten in einer zwei Kilometer langen Schlange im Gleichschritt zehn Minuten lang auf Stelzen.

UNESCO-Weltkulturerbe: Stelzenkampf in Belgien

Seit mehr als 600 Jahren findet in der belgischen Stadt Namur alljährlich im September ein Wettkampf statt, bei dem zwei Teams auf Stelzen gegeneinander antreten. Ziel ist es, alle Mitspieler der gegnerischen Mannschaft zu Fall zu bringen. Anschließend kämpft jeder gegen jeden. Wer am längsten durchhält, erhält den Preis: eine Goldene Stelze. Bei diesem kuriosen Wettkampf haben schon solch illustre Persönlichkeiten wie Kaiser Karl V., Ludwig XIV. und Napoleon zugeschaut. Seit 2021 steht das Stelzenturnier von Namur auf der UNESCO-Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit.

Seit dem 17. Jahrhundert tanzen Männer Ende Juli im spanischen Dorf Anguiano auf 50 Zentimeter hohen Stelzen eine steile Gasse hinunter. Beim Stelzentanz, dem Danza de los Zancos, tragen sie weite Röcke und drehen sich unermüdlich um sich selbst. Wer das Gleichgewicht verliert fällt in die jubelnde Menge am Wegesrand. Der Stelzentanz ist Maria Magdalena gewidmet, der Schutzpatronin der Gemeinde, und sollte ursprünglich zu einer guten Ernte führen.

Noch zur Jahrhundertwende arbeiteten die Schäfer im Südwesten Frankreichs auf rund zwei Meter hohen Stelzen, wie die Zeitschrift "Die Woche" im Jahr 1900 berichtete. Für die Landbevölkerungen waren sie das beste Fortbewegungsmittel auf den holprigen und sumpfigen Strecken. Außerdem hatte der Hirte seine Schafe so besser im Blick und schützte sich selbst vor Schlangen, Zecken und Wölfen. Ein hoher Stock diente als Hirtenstab und, gegen den Rücken gelehnt, als Stuhl.

Arbeit auf Stelzen: Französische Schäfer aus der Gascogne im 19. JahrhundertBild: World History Archive/picture-alliance

Doch nicht nur Hirten und Briefträger nutzten die Stelzen. Ganze Familien, von den Großeltern bis zum Enkel, sollen sonntags, mit dem Gebetbuch in der Hand, auf Stelzen über die Heide zur Kirche gegangen sein. Der Bäcker Sylvain Dornon lief 1891 sogar auf Stelzen von Paris über Berlin nach Moskau. Er war es auch, der im ausgehenden 19. Jahrhundert eine der ersten französischen Stelzentanzgruppen gründete. Einige dieser Folklorevereine sind bis heute aktiv.

Stärke zeigen: Jugendliche Stelzenläufer in Äthiopien

Im Südwesten Äthiopiens, wo das Volk der Banna Zuhause ist, waren die Böden sumpfig und die Vegetation dicht. Die Stelzen hatten daher zunächst einen praktischen Nutzen: Die Banna hüteten auf Stelzen das Vieh und waren besser geschützt vor Schlangen und anderen wilden Tieren. Im Laufe der Zeit erhielt das Stelzenlaufen eine gesellschaftliche Bedeutung, die bis heute Bestand hat. Junge, unverheiratete Männer tanzen bei Festen auf Stelzen und vermitteln dadurch dem Stamm, dass sie verantwortungsbewusst, unabhängig und willensstark sind - und es im Ernstfall mit einem Löwen aufnehmen könnten.

Ritueller Stelzentanz in Togo

Tchébé heißt der spektakuläre Tanz aus Togo, der auf bis zu fünf meterhohen Stelzen aufgeführt wird. Er erfordert jahrelanges Training und wird von Gesang und Musik begleitet. Der Tanz ist eng mit der Voodoo-Religion verknüpft. Deshalb sind die Tänzer maskiert und müssen sich spirituell vorbereiten. Sie dürfen vor ihren Auftritten beispielsweise nur bestimmte Speisen zu sich nehmen.

Über den Ursprung des Tanzes gibt es verschiedene Erzählungen. Die populärste geht so: Der Legende nach soll ein Mann namens Itché während der Jagd Feen mit nur einem Arm und einem Bein im Wald entdeckt haben, die auf Stöcken hüpften. Nachdem er einen Warnschuss abgab, entschwanden die Feen, ließen aber ihre Stöcke liegen. Itché nahm die Beute mit und lehrte fortan die Kunst des Stelzentanzes.

Stelzentänzer wehren böse Geister ab

In vielen Ländern Afrikas tanzen Menschen seit Jahrhunderten auf Stelzen. Dass sich die Tradition in der Karibik unter dem Begriff "Moko Jumbie" fortsetzte, ist eine Folge des Sklavenhandels im 19. Jahrhundert. "Moko" ist ein Orisha, ein Gott der Vergeltung, "Jumbie" bezeichnet einen Geist oder Dämon. "Moko Jumbies" sind Stelzenakrobaten, die bei Karnevalsumzügen und anderen festlichen Anlässen auf drei bis viereinhalb meterhohen Stelzen in schillernden Kostümen durch die Straßen ziehen. Sie haben auch eine spirituelle Bedeutung: Durch ihre Größe gelten sie als Beschützer und sollen böse Geister abwehren.

Den Tag des Stelzenlaufens hat übrigens vor rund 20 Jahren ein US-Amerikaner ins Leben gerufen. Bill "Stretch" Coleman ist selbst Stelzenläufer und will Menschen jeden Alters dazu ermutigen, sich am 27. Juli dem Kinderspaß hinzugeben. Na dann, rauf auf die Stelzen!