Ernst Schering Preis 2016
26. September 2016DW: Für welche Forschungsarbeit wurde Ihnen der Ernst Schering Preis verliehen?
Franz-Ulrich Hartl: In unserem Forschungsgebiet geht es um Eiweiß-Moleküle. Eiweiße - auch Proteine genannte - sind für fast alle wichtigen Funktionen verantwortlich, zum Beispiel für den Stoffwechsel, die Signalübermittlung, Bewegung, Muskelkontraktionen und so weiter.
Diese Eiweiße werden in den Zellen als lange Ketten aus Aminosäure-Bausteinen gebildet. Diese Ketten müssen ein bestimmtes Faltungsmuster einnehmen - eine dreidimensionale Form. Sie ist notwendig, damit sie ihre biologische Funktion ausüben können. Wir untersuchen diesen Prozess der Proteinfaltung und haben festgestellt, dass dieser Faltungsprozess nicht spontan abläuft, sondern dass bestimmte Helferproteine nötig sind. Man bezeichnet sie als Chaperone oder als molekulare Anstandsdamen der Zelle.
Welche Aufgaben übernehmen die Chaperone?
Die molekularen Chaperone verhindern, dass sich die Eiweißfäden falsch falten und Verklumpungen oder sogenannte Aggregate bilden. Diese Verklumpungen sind die Ursache wichtiger neurogenerativer Krankheiten, wie der Alzheimer-Demenz, der Parkinson-Krankheit oder der Chorea Huntington.
Wenn sich diese Ablagerungen im Gehirn bilden, dann hat es auch damit zu tun, dass die molekularen Chaperone nicht mehr so funktionieren wie sie das bei jüngeren Menschen tun. Beim Alterungsprozess scheinen diese Chaperone teilweise ihre Funktion zu verlieren. Krankheiten können sich manifestieren. Eine unserer Hoffnungen ist, Möglichkeiten zu finden, wie wir in der Zukunft diese Chaperone durch Medikamente aktivieren können und dadurch vielleicht das Auftreten dieser Krankheiten verzögern oder abmildern können.
Was war ein entscheidender Schritt in Ihrer Forschungsarbeit und mit welchem Ergebnis?
Auf Basis früherer Arbeiten konnten wir den Mechanismus der Chaperone entschlüsseln. Ein interessanter Mechanismus besteht darin, dass die Chaperone eine Art fassförmigen Käfig bilden. Darin wird das ungefaltete Eiweißmolekül - die ungefaltete Eiweißkette - eingeschlossen und kann sich dann im Innenraum dieses Zylinders falten, ohne mit anderen Eiweißmolekülen verklumpen zu können. Wenn Sie in einem Kochtopf Spaghetti kochen, dann können die ja leicht miteinander verkleben. Wenn aber nur ein Spaghetti im Topf ist, dann kann diese nicht mit anderen verkleben.
Sind diese Verklumpungen das gleiche wie Plaques bei Alzheimer?
Die berühmten Alzheimer-Plaques gehören dazu und sind das klassische Beispiel für diese Verklumpungen. In dem Fall sind sie außerhalb der Nervenzellen abgelagert und schädigen die Nervenzellen quasi von außen. Bei anderen Krankheiten, anderen neurogenerative Krankheiten - zum Beispiel der Parkinson-Krankheit - befinden sich die Ablagerungen innerhalb der Zellen. Nervenzellen, Hirnzellen, neuronale Zellen sind besonders empfindlich gegenüber solchen Ablagerungen. Die Aufgabe der Chaperone besteht darin, solche Ablagerungen zu verhindern, indem sie die Proteinketten voneinander abschirmen.
Könnten Alzheimer-Patienten irgendwann von dieser Forschung profitieren?
Da kann man sehr schwer genaue Voraussagen machen. Aber es besteht die Hoffnung, Medikamente zu finden, die die Chaperon-Systeme aktivieren, sodass sie ihre Funktion mit besserer Effizienz ausüben. Chaperone sind selber Eiweiß-Moleküle und müssen sich selbst falten. Die Bildung dieser Chaperone wird von den Zellen durch bestimmte Signalstoffe reguliert. Wenn wir durch Medikamente in diese Signalprozesse eingreifen können, dann können wir die Zellen vielleicht dazu bringen, diese Chaperone verstärkt herzustellen. In Modellversuchen gelingt das bereits.
Wie könnte das funktionieren?
Es gibt Substanzen, die in den Zellen eine sogenannte Stressantwort auslösen. Viele von diesen Chaperonen werden auch als Stress-Proteine bezeichnet. Unter bestimmten Bedingungen - sogenannten Stressbedingungen, zum Beispiel Hitzestress - werden vermehrt Chaperone gebildet, denn unter Hitze-Stress-Bedingungen laufen die Zellen verstärkt Gefahr, ihre normale Faltung zu verlieren, und sie müssen dann von diesen Chaperonen geschützt werden. Deswegen bilden die Zellen vermehrt Chaperone. Bei den Patienten müssen wir die Zellen dazu bewegen, sich so zu verhalten als würden sie eine solche Stress-Situation erfahren.
Wie sieht Ihre derzeitige Forschungsarbeit aus?
Wir müssen noch sehr viel genauer verstehen, warum eigentlich diese Eiweiß-Verklumpungen diese Zellen schädigen. Welche Mechanismen spielen dabei grundlegend eine Rolle? Denn nur dann können wir diese Mechanismen unterbrechen und eine wirkungsvolle Therapiestrategie entwickeln also wenn wir genau verstehen, warum diese Eiweiß-Verklumpungen toxisch sind. Das ist immer noch eine große Frage, große offene Frage, mit der sich mehrere Arbeitsgruppen in der Welt beschäftigen.
Welche anderen wichtigen Funktionen erfüllen die Chaperone?
Die Aufrechterhaltung der Proteinform und der Proteinqualität in unsren Zellen spielen auch beim normalen Alterungsprozess eine große Rolle. Unabhängig von spezifischen Krankheiten wissen wir ja, dass wir im Alter bestimmte Gebrechen entwickeln, dass bestimmte Funktionen nicht mehr so effizient ablaufen wie früher. Das hat offensichtlich erheblich damit zu tun, dass unsere Eiweiß-Moleküle nicht mehr so in Form sind wie bei einem jungen Menschen.
Es gibt viele Untersuchungen zum Altern, die man an Modellorganismen vornimmt, und da hat man festgestellt, dass sich eine Aktivierung der Chaperon-Systeme lebensverlängernd auswirkt.
Welche anderen Auswirkungen könnte das haben?
Das man zum Beispiel weniger vergisst oder das man nicht diese Muskelschmerzen entwickelt, die viele ältere Menschen haben. Die kommen daher, dass sich in den Muskelzellen solche Verklumpungen ablagern. Da ist noch viel Potential.
Professor Dr. Franz-Ulrich Hartl ist Direktor der Abteilung Zelluläre Biochemie am Max-Planck-Institut für Biochemie in Martinsried. Er ist Preisträger des diesjährigen Ernst Schering Preises für seine Arbeit zu Chaperonen.
Das Gespräch führte Carla Bleiker.