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"Klimaneutralität ist das falsche Ziel"

4. Juli 2023

Nicht klimaneutral, sondern klimapositiv sollten die Menschen werden. So das Cradle to Cradle Konzept. Im Interview erklärt der Erfinder des Konzepts, Michael Braungart, was es damit auf sich hat.

Elektroschrott: Mengen von nicht mehr gebrauchsfähigen Smartphones.
Elektroschrott: Mengen von nicht mehr gebrauchsfähigen Smartphones. Bild: Geert Vanden Wijngaert/AP Photo/picture alliance

"Nachhaltigkeit ist ein trauriges Konzept" und "Wir sind nicht zu viele Menschen", meint der Verfahrenstechniker und Chemiker Michael Braungart. Er hat zusammen mit seinem US-amerikanischen Kollegen William McDonough Ende der 1990er Jahre, also vor rund 30 Jahren, das Cradle to Cradle Konzept entwickelt. Wie aber können damit unsere Klima- und Umweltprobleme gelöst werden?

Braungart ist Professor an der Universität in Lüneburg und an der Universität in Rotterdam. Er ist außerdem wissenschaftlicher Leiter des Hamburger Umweltinstituts, hat ein international tätiges Forschungs- und Beratungsinstitut gegründet, das Unternehmen bei der Einführung von Kreislaufprozessen unterstützt und er bekam im letzten Jahr den Deutschen Nachhaltigkeitspreis.

Deutsche Welle: Was genau steckt hinter dem Cradle to Cradle Konzept?

Michael Braungart: Bei Cradle to Cradle geht es darum, alle Dinge so zu gestalten, dass sie nützlich sind. Nicht 'weniger' schädlich. Alle Dinge, die verschleißen - Schuhsohlen, Bremsbeläge oder Autoreifen werden so gestaltet, dass sie biologisch nützlich sind, biologisch abbaubar sind. Wenn nur die Leistung gebraucht werden - ich verbrauche ja keine Waschmaschine, keinen Fernseher - müssen die Produkte so gemacht werden, dass die enthaltenen Rohstoffe wieder genutzt werden können.

Co-Erfinder des Cradle to Cradle-Konzepts: Michael Braungart, Professor an der Universität in LüneburgBild: Raphael Gebauer

Beim Cradle to Cradle gibt es die Biosphäre und die Technosphäre. Können sie das noch einmal erläutern?

Die Biosphäre bedeutet: heute Nährstoff für Radieschen, morgen Nährstoff in der Landwirtschaft. Die Technosphäre bedeutet: heute Waschmaschine, morgen Autoteil, übermorgen Möbelstück. Die in der Technosphäre verwendeten Materialien werden wieder und wieder verwendet und dürfen nicht in die Biosphäre gelangen. Dafür muss es ein anderes Geschäftsmodell eingeführt geben, in dem die Unternehmen nicht mehr beispielsweise Waschmaschinen verkaufen, sondern nur die Waschleistung. Der Hersteller behält das Eigentum an der Waschmaschine. Weil er nur das Recht auf Nutzung verkauft, lohnt es sich für ihn, das beste Material zu wählen, nicht das billigste. Vor allem lohnt es sich für ihn, die Waschmaschine so zu designen, dass er am Ende der Nutzungszeit die in der Waschmaschine enthaltenen Rohstoffe neu einsetzen kann. So werden dann unter Umständen nur vier Kunststoffe statt 80 billige Kunststoffe in einer Waschmaschine verarbeitet.

Sie haben Cradle to Cradle seit 30 Jahren propagiert. Was hat sich seitdem getan?

Ich bin überrascht, wie weit sich die Idee schon durchgesetzt hat. Es gibt bereits über 16.000 zertifizierte Produkte. Jede Designschule der Welt lehrt das Konzept inzwischen. Ich hatte nicht erwartet, dass ich das erlebe, wie sich Cradle to Cradle umsetzt, wenn man bedenkt, dass es beispielsweise beim Mobiltelefon 65 Jahre gebraucht hat von der Erfindung zur Umsetzung.

Vor allem unterscheidet sich das Cradle to Cradle Konzept fundamental vom traditionellen Umwelt- und Klimaschutz. Meist meinen die Menschen, sie schützen die Umwelt, wenn sie etwas weniger zerstören, weniger Auto fahren, weniger Müll machen, weniger Energie verbrauchen. Aber damit schützen sie nicht, sondern zerstören nur weniger. Wir sind das einzige Lebewesen, das Abfall macht und dafür sind wir zu viele Menschen auf der Welt.

Ich möchte noch mal auf ihr Waschmaschinenbeispiel zurückkommen. Hat der Hersteller einer Waschmaschine nicht unter Umständen das Interesse, eine billige Maschine zu konzipieren und die am Ende der Nutzungsdauer ganz normal auf den Müll zu schmeißen?

Das wäre nicht sehr sinnvoll, weil dadurch die Rohstoffe verloren gehen. Wenn der Hersteller das beste Material verwenden kann, weil er nicht gezwungen ist, eine möglichst günstige Maschine herzustellen, wird der Kunde praktisch zur Materialbank. Und das Material der Waschmaschine muss nicht dem Hersteller gehören. Es kann auch das Eigentum eines Dritten sein, beispielsweise einer Bank, die Anteilsscheine für das Material herausgibt.

Es ist wichtig, zu verstehen, dass wir keine Verbraucher für Waschmaschinen sind. Wir sind nur Nutzer. Als Verbraucher kaufen wir die Dienstleistung und haben ein Interesse, dass die Waschmaschine dann auch so lange hält. Neun Jahre - das ist der Innovationszyklus einer Waschmaschine. Die Waschmaschine, die 30 Jahre verwendet wird, ist ein Alptraum, weil dann die Innovationen zu langsam auf den Markt kommen. Wir sollten also nicht mehr möglichst langlebige Produkte anstreben.

In der digitalen Welt sind definierte Nutzungszeiten sinnvoller. So weiß man, wann das Material wieder zur Verfügung steht. Nehmen wir zum Beispiel, einen Hersteller für Fenster. Der verkauft mit seinen Fenstern jedes Jahr 70.000 Tonnen Aluminium. Würde er nur ein Nutzungsrecht für die Fenster verkaufen, dann könnte er die Fenster viel kostengünstiger machen oder beim gleichen Preis mehr verdienen.

Warum setzt es sich das Prinzip Cradle to Cradle dann nicht in großem Stil durch, wenn es für den Hersteller wirklich günstiger wäre, nur Nutzungsleistungen zu verkaufen?

Es gibt schon einige Hersteller, die das verstanden haben. Zum Beispiel ein Unternehmen in Aschersleben. Das verkauft keine Terrassen-Dielen, also keine Materialien mehr, sondern nur 30 Jahre Nutzungsrecht und das ist extrem erfolgreich. Da die Materialien für die Dielen etwa 20-mal verwendbar sind, hat sich das Unternehmen für die nächsten 500 Jahre die Rohstoffe gesichert. Es ist nicht mehr abhängig von Erdöl oder vom Weltmarkt. Oder ein anderes Beispiel: Es gibt jetzt Teppichböden auf dem Markt, wo den Menschen für zehn Jahre eine Fußbodenverpackungs-Versicherung verkauft wird.

Rückbau eines Plattenbaus in Cottbus: Die Elemente finden eine neue Nutzung (Projekt RoofKIT in Cottbus, Bundesland Brandenburg) Bild: Angelika Mettke

Einige Unternehmen verfolgen also schon das Cradle to Cradle Konzept - sind Sie zufrieden mit der Entwicklung?

Nein, ich bin natürlich überhaupt nicht zufrieden. Der Planet zerstört sich im Augenblick in einer Geschwindigkeit, wie man es sich vor fünf Jahren noch nicht vorgestellt hatte. Und auch das 1,5 Grad Ziel wird diesen Planeten nicht retten. Es wird die Zerstörung um zwei Generationen etwas verschieben. Das heißt, wir sind im Verhältnis viel zu langsam mit dem, was wir eigentlich tun müssten. Irgendwann werden wir mit der Reparatur der Zerstörung, so sehr beschäftigt sein, dass wir gar nichts Neues mehr machen können.

Warum sind sie gegen das Streben nach mehr Nachhaltigkeit?

Nachhaltigkeit bedeutet, dass Bestehendes optimiert wird. Aber sie machen so nur das Falsche perfekt. Das heißt, sie optimieren die falschen Dinge und dann konkurriert das Cradle to Cradle Prinzip mit hoch optimierten falschen Systemen.

Hier werden die Betonelemente neu verbaut, in diesem Fall für ein Vereinshaus. Bild: Angelika Mettke

Wir haben riesige Mengen Plastikmüll in der Umwelt. Seit 1950 haben sich fünf Milliarden Tonnen Plastik auf offenen Deponien und in der Umwelt angesammelt. Es gibt Prognosen, dass bis 2040 noch weitere 1,7 Milliarden Tonnen dazukommen. Ist es im Angesicht solcher Zahlen nicht sinnvoller, für den Verzicht von Plastik zu plädieren, anstatt zu sagen, wir müssen einfach nur die Produktion umstellen?

Das Verzichten hört sich immer pragmatisch an, ist es aber nicht. Nicht nur einfache Dinge, wie Tüten, sind aus Plastik. Das Thema ist viel umfassender. Im Auto werden etwa 200 Kilogramm Plastik verwendet. Da braucht es ein anderes Modell des Umgangs mit Kunststoffen. Dinge, die verschleißen, müssen in biologischen Systemen abgebaut werden können. Es finden sich schon jetzt in jeder Körperzelle Mikroplastik.

Es ist mir jeden morgen ein Rätsel, wie man Schuhe herstellen kann, ohne sich zu fragen, was mit dem Abrieb passiert. Jeder Mensch gibt jedes Jahr zwischen 90 und 110 Gramm Mikroplastik allein durch Schuh-Abrieb ab. Dabei kann man Schuhe machen, deren Abrieb biologisch abbaubar ist. Das haben wir schon 2015 mit der Firma Puma demonstriert. Es geht also anders.

Blick von oben auf den Neubau des Vereinshauses. Bild: Angelika Mettke

Wo sollte man zuerst ansetzen?

Zuerst sollte man aufhören PVC zu benutzen. PVC war gut gedacht, weil so die Chlor-Überschüsse aus der Natronlaugen-Produktion untergebracht wurden. Heute liegt beispielsweise in Ägypten meterhoch Plastik rum. Das Waschen dieser Kunststoffe ist aber dreimal teurer als der Wert des Plastiks. Wegen des PVC kann ich das Zeug noch nicht einmal verfeuern. Darum bleibt es liegen. Plastik ist wirklich die Pest des Jahrtausends und wir werden ungeheure Schwierigkeiten bekommen, weil es das biologische Systeme zerstört. Also wir müssen jetzt wirklich handeln, und das heißt alle Plastiksorten, die durch ihre Anwendung verschleißen, müssen so gemacht werden, dass sie in biologische Systeme zurückgehen können. Sonst bleiben die Kunststoffe 600 bis 800 Jahre in der Umwelt. Und für Produkte, die nur genutzt werden, gibt es Plastiksorten, die sich praktisch wie Metalle verhalten. Die können 500 mal eingeschmolzen und weiter verwendet werden.

Und so sieht das fertige Gebäude aus. Von der unschönen Beton-Ästhetik ist nichts mehr zu sehenBild: Angelika Mettke

Warum ist Klimaneutralität das falsche Ziel?

Es ist Blödsinn, wenn Städte klimaneutral werden wollen. Ich meine, ein Baum ist doch auch nicht klimaneutral, der ist gut fürs Klima. Besser wäre es, wenn Städte das Ziel hätten, in zehn Jahren zum Beispiel nur noch Plastik zu verwenden, das aus dem CO2 aus der Atmosphäre gewonnen wird.

Auch Bio-Siegel müssen sich verändern. Bei Cradle to Cradle verstehen wir den Menschen als Chance, nicht als Belastung. Es gibt in der ganzen westlichen Welt keinen Bio-Siegel, dass erlaubt menschliche Stoffwechselprodukte wieder einzusetzen. Als ich ein paar Jahre in China gearbeitet habe, habe ich gelernt, wenn man auf dem Land zum Essen eingeladen ist, dann erwarten die Leute bis heute, dass man nach dem Essen so lange bleibt, bis man die Toilette aufsucht. Es gilt, als unhöflich zu gehen und die Nährstoffe mitzunehmen.

Welche Anreize würden Unternehmen dazu bringen, ihr Wirtschaftsverhalten zu ändern und in Richtung Cradle to Cradle gehen?

Es ist zunächst einmal fast belanglos, was wir hier in Deutschland machen. Der Kohlendioxidausstoß der Bundesrepublik Deutschland ist geringer als der der Zementindustrie in China. Es muss uns vor allem gelingen, die Leute in Indien und China zu inspirieren.

Außerdem werden wir, wenn wir nicht unter Geschäftsmodell ändern, den gesamten Maschinenbau verlieren. Ein Beispiel: Wir waren weltweit führend bei Solaranlagen. Die Solaranlagen der Firma Schüco hatten nach 19 Jahren noch 93 Prozent ihres Wirkungsgrades. Weil sie aber 30 Prozent teurer waren als die chinesischen Anlagen, ist das Unternehmen in Konkurs gegangen. Dabei wären die Anlagen über 20 Jahre 40 Prozent pro Kilowattstunde kostengünstiger gewesen. Die chinesischen Anlagen haben in den ersten fünf Jahren bereits die Hälfte ihres Wirkungsgrades verloren haben. Es ist deshalb entscheidend, Geschäftsmodelle nach Cradle to Cradle zu entwickeln, in denen Unternehmen nur das Nutzungsrecht verkaufen, weil sie sonst mit Sondermüll aus Asien konkurrieren.

Wir brauchen also ein fundamental anderes Denken. Das muss aber von den Unternehmen ausgehen. Und ich bin durchaus optimistisch. Es braucht keine Gesetzgebung, um Cradle to Cradle voranzutreiben. Einem Geschäftsführer eines Bioladens, der nur 16 Läden betreibt, habe ich gezeigt, wenn ich so einen weißen Kassenbon aus Thermopapier anfasse, habe ich sofort zwei Dutzend Chemikalien im Blut. Ins Altpapier darf der Bon auch nicht. Der Geschäftsführer ist dafür verantwortlich, dass es heute auch bei Edeka blaue Ökobons gibt. Die sind perfekt kompostierbar. Eine einzige Person hat das erreicht! Wenn die Stadt Lüneburg sagen würde, wir möchten keine Schuhe mit Mikroplastik-Abrieb mehr haben, dann würde sich etwas ändern. Auf jeder Ebene kann man etwas tun. Ich lade alle ein: Machen Sie mit!

Insa Wrede Redakteurin in der Wirtschaftsredaktion
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