"Die Kunst wird als Geisel genommen"
5. November 2022Nachdem Anfang November 2022 eine Radfahrerin verstarb, die einige Tage zuvor bei einem Verkehrsunfall in Berlin schwer verletzt wurde, ist eine Diskussion um die Protestmethoden von Klimaaktivistinnen und -aktivisten der Gruppe "Letzte Generation" entbrannt. Ein Spezialfahrzeug, das helfen sollte, die Verletzte unter dem Lastwagen, der sie einklemmte, zu befreien, kam nach Angaben der Feuerwehr nicht durch. Die Berliner Polizei macht dafür einen Stau verantwortlich, den eine Straßenblockade der Klimaaktivisten ausgelöst hatte. Die Polizei erstattete Anzeige gegen zwei Aktivisten wegen unterlassener Hilfeleistung und Behinderung Hilfe leistender Personen.
"Letzte Generation" weist Verantwortung von sich
Die Gruppe "Letzte Generation" wies die Verantwortung von sich und übte scharfe Kritik an der Berichterstattung über die Kontroverse: "Dass ein ganzes Mediensystem sich gegen uns wenden würde, damit haben wir nicht gerechnet", hieß es in einem Statement der Gruppe, das auf ihrer Internetseite veröffentlicht wurde.
Man sehe sich einer "Welle der Vorwürfe, Unwahrheiten und Hetze" ausgesetzt und wies darauf hin, dass der Unfall mehrere Kilometer von dem Protestort entfernt stattgefunden habe. Außerdem habe man die Polizei vor der Aktion informiert, um die Umleitung von Einsatzfahrzeugen gebeten und eine Rettungsgasse gelassen.
"Solange unsere höchsten politischen Organe unsere gemeinsame Verfassung mit Ansage brechen, da sie unsere Lebensgrundlagen zerstören, solange werden wir friedlichen Widerstand leisten", erklärte Henning Jeschke, einer der Aktivisten, zu den Protestmethoden der Gruppe im Bayerischem Rundfunk.
Medienwirksame Proteste
Nicht nur auf der Straße, auch in europäischen Museen haben Klimaaktivistinnen und -aktivisten in den letzten Wochen Protestaktionen durchgeführt: Ebenfalls sehr medienwirksam - mit Kartoffelbrei, Tomaten- und Erbsensuppe oder roter Farbe - wurden berühmte Gemälde attackiert. Der Deutsche Verband für Kunstgeschichte hatte deshalb bereits Anfang November zum Schutz von Kunstwerken aufgerufen - "aus der Verpflichtung gegenüber zukünftigen Generationen", für die sie bewahrt würden, hieß es in der Stellungnahme.
Zuvor hatten Klimaaktivistinnen und -aktivisten am 23. Oktober im Museum Barberini das weltberühmte Gemälde "Heuschober" von Claude Monet mit Kartoffelbrei beworfen. In der Londoner National Gallery traf es rund zehn Tage zuvor Vincent van Goghs nicht minder bekanntes Werk "Sonnenblumen". Verantwortlich dafür waren Klima-Aktivisten der Gruppe "Just Stop Oil", genauso wie in Den Haag , wo das weltberühmte Gemälde "Das Mädchen mit dem Perlenohrgehänge" von Johannes Vermeer zur Zielscheibe wurde. Alle drei an der Aktion beteiligten Personen wurden inzwischen zu zweimonatigen Haftstrafen verurteilt, teils auf Bewährung. Das verglaste Gemälde im Mauritshuis in Den Haag war bei der Aktion nicht beschädigt worden.
Auch im Naturhistorischen Museum in Berlin kam es zu Attacken. Bereits im August hatten sich Umweltaktivisten der "Letzten Generation" in der Gemäldegalerie Alte Meister in Dresden am Rahmen von Raffaels "Sixtinischer Madonna" festgeklebt - und im Frankfurter Städel Museum am Rahmen von Nicolas Poussins Gemälde "Gewitterlandschaft mit Pyramus und Thisbe".
Im Pariser Louvre traf eine Torte eines der berühmtesten Gemälde der Welt, Leonardo da Vincis "Mona Lisa".
Die Attacken von Aktivistinnen und Aktivisten zielten am 4. November in Rom erneut auf ein Gemälde Vincent van Goghs: "Der Sämann" wurde im Palazzo Bonaparte mit Erbsensuppe begossen.
Jüngste Aktionen in Rom und Madrid
Am 5. November klebten sich Klimaaktivistinnen der Gruppe "Extinction Rebellion" im Prado-Museum in Madrid an zwei Gemälden des Barock-Meisters Francisco de Goya fest. Die zu Goyas berühmtesten Werken gehörenden Bilder "Die nackte Maja" und "Die bekleidete Maja" wurden nach Museumsangaben nicht beschädigt. Auf die Wand zwischen den Ölgemälden schrieben die Aktivistinnen in großen Lettern "+1,5°C" - ein Bezug auf die im Pariser Klimaabkommen vereinbarte Höchstgrenze für die Erderwärmung. Die spanische Regierung verurteilte die Aktion. Ein solcher "Akt des Vandalismus" provoziere lediglich "allgemeine Ablehnung", betonte Kulturminister Miquel Iceta. Keine noch so gute Sache rechtfertige es, "das gemeinsame Erbe aller anzugreifen". Auch das Prado-Museum kritisierte die Tat.
Die junge Generation, der viele Klimaaktivistinnen und -aktivisten angehören, sei mit sozialen Medien aufgewachsen - und sich deshalb der Macht der Bilder bewusst, sagt Kerstin Thomas, Professorin für Kunstgeschichte an der Universität Stuttgart.
Wieso werden Kunstwerke zur Zielscheibe?
"Wir sympathisieren im Verband mit den Zielen der Aktivisten", so Thomas, erste Vorsitzende des Deutschen Verbandes für Kunstgeschichte, im Bezug auf die Protestaktionen in Museen. "Ihre Mittel können wir aber nicht unterstützen. Die Kunst wird hier als Geisel genommen für ein Anliegen, mit dem sie nichts zu tun hat." Die attackierten Werke hätten die Klimakrise nicht zu verantworten, sie würden sie auch nicht verherrlichen oder befeuern.
Schon in der Vergangenheit wurden Kunstwerk und Denkmäler zur Zielscheibe, zum Beispiel während des protestantischen Bildersturms im Europa des 16. Jahrhunderts, als evangelische Christen religiöse Kunstwerke aus Kirchen entfernten oder sogar zerstörten, da sie glaubten, dass diese dem christlichen Glauben schaden würden.
Ein neuartiger Bildersturm
"Auch Denkmäler werden immer wieder zum Ziel von Bilderstürmen", erklärt Kerstin Thomas gegenüber der DW. Ein Beispiel seien die jüngsten Attacken auf sowjetische Statuen in den baltischen Staaten oder auf Statuen der Profiteure des Kolonialismus in Großbritannien.
Die jüngsten Proteste in Museen seien aber anderer Natur, führt Thomas aus. Sinn solcher Denkmäler und Statuen sei es ja gerade, Macht auszudrücken. Der Protest richte sich dann eben auch gegen diese Macht: Also gegen den Kolonialismus, den die Statue eines Sklavenhändlers verherrlicht, oder gegen die Herrschaft der Sowjetunion in einem Staat wie Litauen, der nach Unabhängigkeit strebt oder sie bewahren will.
"Die Bilder selbst verkörpern keine Macht"
Das sei im Fall der Klimakrise nicht der Fall. "Die Bilder selbst verkörpern keine Macht", sagt Thomas. "Sie sind für die Klimakrise nicht verantwortlich." Monets "Heuschober" ist kein Ausdruck der Macht der Ölkonzerne - genauso wenig wie Vincent van Goghs "Sonnenblumen".
Klima-Aktivisten führen als Argument an, wenn der Planet untergehe, brauche man auch keine Kunst mehr. Außerdem würde man Gemälde nicht beschädigen, sondern nur die Glasscheiben, hinter denen sie geschützt sind, sowie ihre Rahmen.
Schützt eine Glasscheibe vor Schäden?
Aus kunsthistorischer Sicht könne man dieses Argument nicht gelten lassen, widerspricht Kerstin Thomas. "Auch ein Rahmen oder ein Sockel gehören zum Kunstwerk und seiner Geschichte." Es sei der Auftrag von Museen, eben diese Kulturgeschichte für die Zukunft zu erhalten. "Es geht darum, das kulturelle Erbe so zu bewahren, dass auch spätere Generationen noch etwas davon haben." Außerdem sei das Kunstwerk hinter der Glasscheibe nicht luftdicht verpackt, erklärt Thomas. Tomatensuppe enthalte viel Säure und könne einem Kunstwerk durchaus schaden, wenn sie durch die Glasscheibe dringt. "Eine Attacke nimmt es zumindest billigend in Kauf, dass das Kunstwerk Schaden nimmt."
Der Deutsche Verband für Kunstgeschichte sorgt sich jetzt auch um Trittbrettfahrer: "Schlecht wäre es, wenn sich solche Aktionen als Form des legitimen Protests etablieren würden", so Thomas. Mindestens eine Nachahmerin fanden die medienwirksamen Aktionen bereits: In der Alten Nationalgalerie in Berlin bewarf am 30.10. eine Frau das Gemälde "Clown" von Henri de Tolouse-Lautrec mit Kunstblut und gab als Grund bei der Polizei an, sie habe für mehr Demokratie demonstrieren wollen.
Erhöhte Sicherheitsvorkehrungen
Um erneute Attacken auf Kunstwerke durch Aktivistinnen und Aktivisten zu verhindern, haben viele europäische Museen in den letzten Tagen ihre Sicherheitsmaßnahmen verschärft. Die Staatlichen Museen in Berlin können bis auf Weiteres nur noch nach Abgabe von Jacken und Taschen an der Garderobe oder in den Schließfächern besucht werden. Das gilt auch für das Museum Barberini im nahegelegenen Potsdam. Weitere Museen wie die National Gallery in London, das British Museum oder der Louvre haben ebenfalls Maßnahmen beschlossen. Öffentlich mitteilen wollen sie diese aber auch auf Anfrage nicht - zum Schutz der Kunstwerke.
Dies ist die aktualisierte Fassung eines Artikels vom 3. November 2022.