Klimaschutz: Atomkraft, ja bitte?
18. Mai 2018"Wir sind froh, dass Atomenergie ein Teil der Lösung für den Energiemix und den Umweltschutz ist", sagt José Ramón Torralbo, Atomkraftdirektor und Ex-Präsident des spanischen Nuklearverbandes im Video der Initiative Nuclear for Climate. Atomkraftverbände aus 38 Ländern haben sich im Jahr 2015 zu dieser zusammengeschlossen. Das Ziel der Kampagne ist es, Politik und Öffentlichkeit über die Notwendigkeit der Atomenergie als Lösung für den Klimawandel aufzuklären, heißt es auf der Webseite. Dieses Ziel wird auch von Vertretern der Lobbyorganisation auf den UN-Klimakonferenzen immer wieder betont.
"Die Kernenergie wird eine wichtige Rolle spielen, um die UN-Nachhaltigkeitsziele und die Pariser Klimaziele zu erreichen", sagt auch Michail Chudakow, stellvertretender Generaldirektor der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEA) in Wien, der von Nuclear for Climate zitiert wird. Um den Weg zu einer CO2-armen Wirtschaft zu gestalten, wirbt die IAEA dafür, Umweltschäden in den Preis der Energiegewinnung einzubeziehen. Ein CO2-Preis sei dafür ein gutes Instrument. Es sei auch hilfreich, um die Wettbewerbsfähigkeit von Atomenergie zu erhöhen.
Ausbau gefordert
In ihrer Projektion zur Erreichung des Pariser Zwei-Grad-Ziels skizziert die IAEA einen rasanten Ausbau der Atomkraft. Ende 2017 waren weltweit Atomanlagen mit einer Gesamtleistung von 353 Gigawatt (GW) in Betrieb, laut IAEA-Projektion sollten es 598 GW bis zum Jahr 2030 sein. Um dieses Ziel zu erreichen, müssten die inzwischen alt gewordenen Kraftwerke jetzt zunehmend ersetzt werden und zusätzlich noch rund 19 GW - etwa 19 Atomkraftwerke - jedes Jahr ans Netz gehen.
Die Umsetzung dieser Projektion würde für die Atomkraft eine Trendwende bedeuten: Im Vergleich zur Kapazität von vor zehn Jahren wuchs die Atomkraft weltweit bis heute nicht mehr und nahm sogar leicht ab. Zugleich wurde die Atomkraft in nur wenigen Jahren von der installierten Wind- und Solarkraft weltweit überholt.
China, das in den letzten Jahren wie kein anderes Land die Atomkraft vorangetrieben hat, zeigt, "wohin die Reise geht", erklärt Mycle Schneider, Herausgeber des unabhängigen World Nuclear Industry Status Reports- nämlich hin zu den erneuerbaren Energien.
2017 gingen weltweit nur noch vier Atomkraftwerke neu ans Netz, drei davon in China und eines in Pakistan, das China gebaut hat. Die Gesamtleistung dieser Kraftwerke liegt bei 3,3 GW. Zugleich installierte China aber im eigenen Land in 2017 Solarstromanlagen mit einer Kapazität von 53 GW. "Selbst in China ist die Atomkraft inzwischen eine vernachlässigbare Größenordnung geworden", so Schneider gegenüber der DW.
Atomstrom im Vergleich teurer
Klimafreundlich mag Atomkraft ja sein, aber lohnt sich eine Investition in diese Art der Stromversorgung wirklich?
Fakt ist, dass die Kosten für Atomstrom stark gestiegen sind. Gründe sind, dass neue Atomkraftwerke immer teurer werden und dass es beim Bau oft zu langen Verzögerungen kommt. Solar- und Windenergie sind im Vergleich viel billiger und lassen sich wesentlich schneller errichten.
Strom aus dem geplanten Atomkraftwerk im englischen Hinkley Point will ein Konsortium ab 2025 für rund 12 Eurocent pro Kilowattstunde (kWh) ins Stromnetz verkaufen. Hinzu kommt ein Aufschlag für die Inflation. Solar- und Windstrom sind im Vergleich deutlich günstiger. Laut einer Studie des Fraunhofer Instituts für Solare Energiesysteme (ISE) kostet heute in Deutschland Strom aus neuen Windanlagen etwa 6,1 Eurocent pro kWh und aus neuen großen Solarkraftwerken im Durchschnitt 5,2 Eurocent. In sonnenreichen Ländern sind die Kosten für Solarstrom noch günstiger und liegen unter vier Eurocent.
Die Fraunhofer Wissenschaftler prognostizieren auch in Zukunft weiter sinkende Preise für Solar- und Windanlagen und somit einen zunehmenden Kostenvorteil gegenüber der Atomkraft.
Sehr teuer wird die Atomkraft allerdings wenn alle Kosten eingerechnet werden. Abgesehen von den noch unklaren Kosten für die Endlagerung von hochradioaktivem Müll über mehrere tausende Jahre, kommen die Kosten für die Behebung der Schäden durch große Atomunfälle wie in Tschernobyl und Fukushima hinzu.
Bislang müssen sich die Kraftwerksbetreiber gegen solch große Unfälle nicht versichern und haften deshalb kaum. Würden sie sich gegen große Atomunfälle absichern, so würde der Atomstrom laut Analyse des Forums Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft um zusätzlich 11 bis 34 Eurocent pro kWh steigen. Selbst Strom aus alten Atomanlagen wäre somit nicht mehr rentabel.
Neue Speichertechnik kompensiert Defizit
Wind- und Solarstrom steht nicht immer ausreichend zur Verfügung und dies galt bislang als großes Defizit. Dieser Nachteil lässt sich inzwischen mit neuen Speichertechnologien wie Power-to-Gas lösen. Bei dieser Technik wird aus Solar- und Windstrom Wasserstoff oder synthetisches Erdgas erzeugt. Dies wird gespeichert und bei Bedarf kann in einem Gaskraftwerk wieder Strom gewonnen werden.
Das Berliner Analyseinstitut Energy Brainpool geht in einer Studie davon aus, dass die Stromkosten für eine sichere Stromerzeugung aus Wind- und Solarstrom in Kombination mit Power-to-Gas bei etwa 12 Eurocent pro kWh in etwa zehn Jahren liegen werden. Damit erreichen sie das Niveau von Atomstrom aus neuen Reaktoren. Der Vorteil solcher Kombikraftwerke gegenüber der Atomkraft liegt vor allem darin, dass der Gesellschaft so keine Risiken und damit verbundene Kosten durch Atomunfälle und die Endlagerung entstehen.
Atomlobby: Keine Antwort und veraltete Zahlen
Die Deutsche Welle bat Nuclear for Climate und internationale Atomverbände um konkrete Zahlen und Einschätzungen. Ist Atomkraft nicht inzwischen viel teurer als die Erneuerbaren, vor allem wenn alle Kosten eingerechnet werden?
Der Pressevertreter von Nuclear for Climate beantwortete die konkreten Fragen nicht. Der Lobbyverband der deutschen Atomwirtschaft, das Deutsche Atomforum (DAtF), das zu den Unterstützern der Initiative Nuclear for Climate gehört, wollte kein Interview geben oder vermitteln. "Bei identischen Marktbedingungen ist die Stromerzeugung aus Kernenergie wirtschaftlich", laute dafür die schriftliche Antwort nebulös. Zugleich sieht das DAtF einen weltweiten Zuwachs der Atomenergie und verweist diesbezüglich auf die Publikationen der IAEA.
Die IAEA will sich zu einem aktuellen Kostenvergleich zwischen Atomstrom und Erneuerbaren gegenüber der DW nicht äußern und verweist auf die Schätzungen der Nuclear Energy Agency (NEA) in Paris, eine halbautonome Institution innerhalb der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit (OECD).
Die NEA publiziert allerdings veraltete Zahlen. In der aktuellesten NEA-Publikation von April 2018 kostet Solarstrom beispielsweise doppelt so viel wie in der Realität und in Studien führender Institute. Die DW fragte die NEA, warum sie veraltete Zahlen publiziere. Liegt hier vielleicht eine bewusste Irreführung vor? Eine Antwort erhielt die DW trotz Nachfragen nicht.
Wer trägt das Risiko bei alten Reaktoren?
Frankreich ist weltweit führend in punkto Atomkraft. Der französische Staatskonzern EDF will mit Unterstützung von Staatspräsident Emmanuel Macron die Laufzeiten der Reaktoren auf 50 bis 60 Jahre verlängern. Die inzwischen alten Reaktoren, so das Kalkül, seien rentabel im europäischen Strommarkt.
Gegen die Verlängerung von Laufzeiten formiert sich in Europa jedoch zunehmend Widerstand. Die Angst vor einem Atomunfall aus den inzwischen alten und störanfälliger gewordenen Reaktoren wächst.
In einer Allianz fordern 15 Regionen aus Deutschland, Österreich und Belgien einen europaweiten Atomausstieg und eine umfassende Haftung der Kraftwerksbetreiber im Falle eine großen Atomunfalls. Derzeit liegt die Deckungsvorsorge in den meisten EU-Ländern unter einer Milliarde Euro; die Kosten eines großen Atomunfalls wie in Fukushima liegen aber deutlich über 100 Milliarden Euro.
"Den Herausforderungen des Pariser Klimabkommens können wir nur durch mehr Effizienz und erneuerbare Energien begegnen", sagt auch Luxemburgs Umweltministerin Carole Dieschbourg bei einem Treffen der europäischen Allianz Ende April. "Atomkraft ist keine Lösung, sondern eine teure und unflexible Risikotechnologie."