Das Auftauen der Dauerfrostböden ist eine der sichtbarsten Folgen der Erderwärmung. Der Leipziger Geograph Mathias Ulrich forscht in der russischen Region Jakutien über absackende Permafrostböden.
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Deutsche Welle: Herr Dr. Ulrich, auf dem 24. UN-Klimagipfel in Kattowitz (COP24) sollen die Weichen für einen effizienten Klimaschutz gestellt werden. Sie interessieren sich für die Folgen des Klimawandels für die Menschen vor Ort in Russland, für die dortige Wirtschaft. Dauerfrostböden gibt es aber auch in anderen Ländern. Warum forschen Sie gerade in Russland?
Ich habe auch auf der norwegischen Insel Spitzbergen und in den USA, in Alaska, wissenschaftlich gearbeitet. Ich selbst kann bereits auf eine langjährige und aktive Kooperation mit dem Melnikov-Permafrost-Institut in der jakutischen Hauptstadt Jakutsk zurückblicken. Zudem ist die Arbeit in Jakutien außerordentlich spannend, weil dort verschiedene Stadien der Permafrost-Degradation auf engstem Raum so anschaulich, wie in einem Lehrbuch, zu sehen sind. Bestimmte Prozesse laufen viel drastischer und schneller ab als anderswo.
Warum?
Der Boden in Jakutien und anderen Regionen Russlands hat einen Eisgehalt von bis zu 80 Prozent, das macht den Boden extrem sensibel. Sobald dieses Eis taut, sackt er drastisch ab.
Ja, ich erforsche tauenden Permafrost, sogenannte Thermokarst-Prozesse, und das damit einhergehende Absacken der Bodenoberfläche.
Wie verläuft dieser Prozess?
Die obere Schicht des Dauerfrostbodens taut im Sommer auf und sollte im Winter wieder zufrieren. Aber nun kommt die Klimaerwärmung, die natürliche Gründe haben mag, aber sich in den letzten circa hundert Jahren wegen des anthropogenen, menschgemachten Klimawandels radikal beschleunigt hat. Und so wird diese sommerliche Auftauzone sukzessive größer. Das stört das Gleichgewicht des Permafrostes, der darunter liegt, und der taut zunehmend auf.
Es sammelt sich Wasser, das wegen seiner thermischen Eigenschaften diesen Prozess noch mehr verstärkt. So entstehen Seen, sogenannte Thermokarst-Seen, die immer mehr und teils unaufhaltsam wachsen.
Mit welcher Geschwindigkeit passiert das?
Die Thermokarst-Seen, die ich beobachte, auch mithilfe von Luft-und Satellitenaufnahmen, haben sich innerhalb von 20-40 Jahren gebildet. Diese Seen sind heute fast 200 Meter im Durchmesser und bis zu 5 Meter tief. Das bedeutet, dass die Oberfläche im Schnitt 7 Zentimeter im Jahr absinkt.
Der deutsche Geograph Mathias Ulrich beobachtet im sibirischen Jakutien, wie der Permafrostboden immer schneller verschwindet. Seine Fotos dokumentieren den Klimawandel in Russlands Norden.
Bild: Instituts für Geographie der Universität Leipzig
Seen, wo früher eine Weide war
Seit vielen Jahren untersucht Mathias Ulrich vom Institut für Geographie der Universität Leipzig, wie der Permafrostboden in Jakutien auftaut. Auf seinen Fotos sind die Folgen dieser Entwicklung zu sehen. Noch vor wenigen Jahrzehnten gab es diese beiden Seen gar nicht. In der Sowjetzeit wurde hier bis in die 1960er Jahre Landwirtschaft betrieben.
Bild: Instituts für Geographie der Universität Leipzig
Die Seen werden immer größer
Auf den Bildern in der unteren Reihe ist deutlich zu sehen, wie schnell die beiden Seen rund 50 Kilometer östlich von Jakutsk in den letzten 25 Jahren gewachsen sind. Wissenschaftler studieren die Satellitenbilder genau. Sie sind Teil eines Forschungsartikels, den Mathias Ulrich zusammen mit einer internationalen Autorengruppe 2017 in der Fachzeitschrift "Water Resources Research" veröffentlichte.
Bild: John Wiley and Sons
Häuserbau auf schlammigem Boden
Auch im Dorf Tschuraptscha in Zentral-Jakutien taut der Permafrostboden auf. Dadurch ist die Start- und Landebahn des lokalen Flugplatzes, der noch zu Sowjetzeiten betrieben wurde, unbrauchbar geworden. Doch die Menschen vor Ort bauen entgegen des Rats von Experten weiterhin Häuser auf diesem feuchten und zunehmend instabilen Boden.
Bild: Instituts für Geographie der Universität Leipzig
Schmelzende Eisschichten
Der Permafrostboden taut selbst im hohen Norden immer schneller auf. Diese etwa zehn bis 20 Meter dicke Eisschicht am Ufer des Lena-Deltas wird in wenigen Jahren verschwunden sein, warnt Geograph Ulrich. Und dann…
Bild: Instituts für Geographie der Universität Leipzig
Fortschreitende Bodensenkung
… wird der Boden wahrscheinlich gleich um mehrere Meter nachgeben, wie auf diesem Foto zu sehen ist. Wissenschaftler bezeichnen die taubedingte Bodensenkung als Thermokarst. Dies verändert das Terrain stark und ist für die Infrastruktur - etwa Straßen, Eisenbahnlinien oder Pipelines - in den Permafrostgebieten ein großes Problem.
Bild: Instituts für Geographie der Universität Leipzig
Gebäude sind in Gefahr
In der Nähe des Lena-Deltas liegt der arktische Hafenort Tiksi. Die Häuser aus der Sowjetzeit stehen hier, wie auch anderswo in Permafrostgebieten, auf Stelzen. Nach heutigen Maßstäben sind viele von ihnen nicht tief genug im Boden verankert. Die globale Erwärmung führt dazu, dass einzelne Gebäude und sogar ganze Städte in Gefahr sind.
Bild: Instituts für Geographie der Universität Leipzig
Schiefe Häuser
Vor allem an den Dächern dieser Holzhäuser in Jakutsk ist deutlich zu erkennen, welche Folgen die taubedingte Bodensenkung für Gebäude hat, die nicht auf Pfählen gebaut sind. Im schlimmsten Fall kommt es zum Einsturz.
Bild: Instituts für Geographie der Universität Leipzig
Kühlung des Bodens
Um den Boden unter dem Krankenhaus in Jakutsk zu stabilisieren, wurde eine Anlage errichtet, die den Boden künstlich kühlt. Es ist teuer, die absinkenden Böden zu stabilisieren, um die bestehende Infrastruktur zu bewahren.
Bild: Instituts für Geographie der Universität Leipzig
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Nun könnte man sagen: Wo ist das Problem? Das alles passiert doch in der Wildnis, die Gegend ist sehr dünn besiedelt!
Aber in diesem konkreten Fall geht es um ehemalige landwirtschaftliche Flächen. Sie mussten aufgegeben werden, die Menschen können sie nicht mehr als Weideland nutzen. Ja, Sibirien ist dünn besiedelt. Aber was man nicht vergessen sollte: mehr als die Hälfte der Landfläche Russlands wird vom Permafrost unterlagert.
Hier werden viele Rohstoffe gefördert, darunter ein Großteil des russischen Öls und Erdgases, hier gibt es recht große Städte – ich nenne mal nur Jakutsk mit nahezu 300.000 Einwohnern. Und nun stellen Sie sich vor, dass die Böden, auf denen Häuser und Betriebe stehen, auf denen Straßen, Eisenbahngleise und Pipelines verlegt wurden, jedes Jahr um mehrere Zentimeter absacken.
Ist man sich in Russland der Dimension dieses Problems bewusst?
In wissenschaftlichen Kreisen, zweifelsohne, ja. Vor Ort, beispielsweise in Jakutien, wo es ja schon zu Deformierungen und sogar zum Einsturz von Gebäuden kam, dürfte es den Leuten auch durchaus bewusst sein.
Deshalb werden ja die Gebäude dort auf Stelzen gestellt. Aber die Menschen im europäischen Teil Russlands, wo der überwiegende Teil der Bevölkerung lebt, in Moskau oder Sankt-Petersburg, unterschätzen meinem Eindruck nach die Geschwindigkeit und die Folgen der Permafrost-Degradation.
Welche weitergehenden Folgen hat es für die Bevölkerung und die Natur?
Die Folgen sind ganz vielfältig! Die indigenen Völker verlieren ihre gewohnten Lebensbedingungen. Die Natur ändert sich: die Baumgrenze, wo die Taiga in die Tundra übergeht, verschiebt sich weiter nach Norden.
Nun, das werden die Einwohner Sibiriens und generell Russlands wohl kaum als bedrohlich empfinden.
Dafür ist für unseren ganzen Planeten ein anderer Effekt höchst bedrohlich: In den Permafrost-Böden sind riesige Mengen an Kohlenstoff gespeichert, die beim Tauen teilweise freigesetzt werden und in die Atmosphäre gelangen. Das führt zur weiteren Klimaerwärmung, die wiederum das Auftauen beschleunigt. Laut Studien könnte das in historisch kurzer Zeit zu einer gewaltigen Emission von Treibhausgasen führen.
Und die wirtschaftlichen Folgen für die russischen Regionen werden darin bestehen, dass die Böden unter Häusern, Betrieben und jeglicher Transportinfrastruktur instabil werden und das zu Havarien führen könnte?
Ich bin kein Ökonom, aber es ist ziemlich offensichtlich, dass das weitere Auftauen der Dauerfrostböden einen enormen zusätzlichen finanziellen und personellen Aufwand nötig machen wird, um die vorhandene Infrastruktur instand zu halten. Und es wird zweifelsohne die weitere Erschließung arktischer und subarktischer Gebiete, die Russland jetzt vorantreibt, enorm verteuern. Dessen sollten sich die Menschen dort bewusst sein.
Mathias Ulrich ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Geographie der Universität Leipzig. Er beobachtet seit Jahren, wie sich der Klimawandel auf die russische Region Jakutien (Ost-Sibirien) auswirkt. Dort erforscht er die Degradation bzw. das Tauen des Permafrostbodens.
Das Gespräch führte Andrey Gurkov.
10 Jahre freie Fahrt durch die Arktis
Ende August 2008 konnten erstmals Schiffe das Nordpolarmeer durchfahren: Nordost- und Nordwestpassage waren gleichzeitig eisfrei. Der Klimawandel machte es möglich. Umweltschützer fürchten um das empfindliche Ökosystem.
Bild: picture-alliance/dpa/D. Goldmann
Es werde Meer
Lange Zeit wagten sich nur Abenteurer und Forscher in die Arktis. Aber jetzt, wo das Eis schwindet, können auch Handelsschiffe hierhin vordringen. Der 29. August 2008 markierte einen Wendepunkt: Zum ersten Mal waren Nordost- und Nordwestpassage für einige Zeit gleichzeitig befahrbar, auch ohne Eisbrecher. Seitdem wird dieser schifffreundliche Zeitraum im Sommer immer länger.
Bild: picture-alliance/Okapia/H. Kanus
Per Abkürzung vom Atlantik in den Pazifik
Die 6500 Kilometer lange Nordostpassage (Abbildung) führt von Asien an Russland und Norwegen vorbei und verbindet Atlantik und Pazifik. Die nur wenig kürzere Nordwestpassage führt an Kanada vorbei Richtung New York. Auf beiden Strecken durchqueren die Schiffe die Beringstraße und dann den Arktischen Ozean. Das geht eben nur, wenn dort die Eisdecke nicht den Weg versperrt.
Bild: DW
Die Alternativen sind länger
Um von Rotterdam nach Tokio zu gelangen, fahren Schiffe derzeit an Indien vorbei und dann durch den Sueskanal in Ägypten. Das sind gut 6000 Kilometer mehr als durch die Nordostpassage. An die östliche US-Küste gelangen Schiffe von Asien aus über den Pazifik und dann durch den Panamakanal. Auch hier ist die Nordwestpassage über 4000 Kilometer kürzer.
Bild: picture-alliance/dpa/A. Shaker
Die Pioniere
Im Jahr 2009 schickte die damalige Bremer Beluga-Reederei erstmals zwei deutsche Schwergutfrachter durch die Nordostpassage. Seitdem ist der Schiffsverkehr in der Region gestiegen. Stark befahren sei das Nordpolarmeer derzeit trotzdem (noch) nicht, sagt Burkhard Lemper vom Institut für Seeverkehrswirtschaft und Logistik in Bremen - allein, weil die Strecke nur zeitweise frei sei.
Bild: picture-alliance/dpa/Beluga Shipping
Freie Durchfahrt
Wie stark die Erwärmung rund um den Nordpol voranschreiten wird, kann kein Klimawissenschaftler sagen. Aber: "Alle sind sich einig, dass die Arktis in den nächsten 30 bis 50 Jahren eisfrei sein wird", sagt Meereis-Experte Christian Haas vom Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven. Als eisfrei bezeichnen Forscher die Arktis, wenn die Eisbedeckung im Sommer unter 1 Million Quadratkilometer sinkt.
Bild: picture-alliance/dpa/D. Goldmann
Wie lange dauert die Ruhe noch?
Biologen fürchten um die einmalige Tierwelt in der Arktis, wenn mehr Schiffe dort verkehren. Belugawale, Grönlandwale und Walrosse etwa seien dann in Gefahr, schrieben US-Forscher im Juli in den "Proceedings" der US-Akademie der Wissenschaften. Sie hatten 80 Populationen von Meeressäugern untersucht und fanden, dass über die Hälfte von ihnen entlang der Nordost- und der Nordwestpassage leben.
Bild: picture-alliance/dpa/McPHOTO
Ganz besondere Bewohner
Die Wissenschaftler befürchten, dass vor allem Narwale unter dem Schiffsverkehr im Arktischen Ozean leiden könnten. Die Meeressäuger halten sich stets in der Nähe des Packeises an den Küsten auf. Auffällig ist der schraubenförmige Stoßzahn des Männchens, der bis zu drei Meter lang werden kann. Hier eine lebensgroße Nachbildung im Ozeaneum in Stralsund.
Bild: picture-alliance/dpa/S. Sauer
Vorbild Antarktis
Forscher und Umweltschützer fordern, endlich Richtlinien für die Schifffahrt in der Arktis festzulegen: Schiffe müssten die wichtigsten Jagdreviere der Wale meiden, ihre Fahrtzeiten an deren Wanderungen anpassen, Lärm und Geschwindigkeit reduzieren. "Das gibt es in der Arktis noch nicht - das ist der große Unterschied zur Antarktis", sagt Biologe Christian Bussau von Greenpeace.
Bild: Reuters/A. Meneghini
Die Ruhe vor dem Sturm?
Gerade mal 50 Schiffe durchfahren nach Angaben von Greenpeace-Experte Bussau die Nordost- und die Nordwestpassage pro Jahr. Der Verband Deutscher Reeder spricht von einer Zahl im zweistelligen Bereich. "Die Zeit drängt trotzdem", meint
Bussau. "Langfristig gesehen wird in der Arktis viel los sein." Doch bisher gibt es keine Umweltvorschriften für die Schifffahrt in dieser Region.