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Politik

"Aufschrei gegen Antisemitismus fehlt"

Tim Schauenberg | Lars Scholtyssyk
30. Januar 2019

Antisemitismus wird immer offener geäußert, viele Juden überlegen sich, das Land zu verlassen: Charlotte Knobloch, ehemalige Vorsitzende des Zentralrates der Juden, verlangt im DW-Gespräch eine klare Haltung dagegen.

Brüssel, EU Parlament, Charlotte Knobloch, ehemalige Präsidentin des Zentralrats der Juden
Bild: DW/T. Schauenberg

Jüdisches Leben unter Polizeischutz

03:09

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Deutsche Welle: Frau Knobloch, Sie haben anlässlich des Holocaust-Gedenktages vor dem Europäischen Parlament gesprochen und deutliche Worte zum Antisemitismus gewählt. Wie schlimm ist es denn aktuell um das Thema in Europa bestellt?

Charlotte Knobloch: Wir stehen heute einem sehr offenen Antisemitismus gegenüber. Nicht nur in Deutschland, sondern in fast allen europäischen Ländern. Man muss das ganz klar ausdrücken. Das habe ich heute versucht darzustellen, in der kurzen Zeit, die mir zur Verfügung stand.

Wir erleben einen Antisemitismus, wo sich Menschen heutzutage überlegen - das kann ich jetzt nur über Deutschland sagen -, ob sie das Land verlassen, ob sie sich noch sicher fühlen können. Diese Fragen werden an mich herangetragen. Es ist eine Situation, die ich mir sicher nicht gewünscht habe und von der ich nie gedacht habe, dass ich sie hier noch einmal erleben werde.

"Die Schuld wird nicht vererbt"

Welche Rolle spielt denn der Holocaust im Bewusstsein der Europäer, besonders der jungen Europäer heutzutage?

Ich kann nur von den jungen Menschen sprechen, mit denen ich zu tun habe - vor allem aus den Erziehungsbereichen. Sie sind sehr interessiert zu erfahren, was für eine Vergangenheit ihr eigenes Land hat. Und im Gegensatz zu früher, wo sie sich mit Schuld beladen gefühlt haben - das war in der Vermittlung im Unterricht einfach ein großer Fehler -, sind viele junge Menschen heute durchaus interessiert. Die Schuld wird nicht vererbt. Vielleicht hätten sich früher auch mehr Menschen für die Geschichte interessiert, wenn sie damals schon richtig unterrichtet worden wären.

"Jüdisches Leben unter Polizeischutz"

Hier im Europäischen Parlament sitzen auch Vertreter der AfD oder des Front National, die auch gerne mal mit dem Antisemitismus spielen und provozieren. Was ist Ihre Botschaft an diese Abgeordneten?

Dieser Antisemitismus belastet uns als jüdische Menschen in Europa sehr, nicht nur in Deutschland, sondern auch in den anderen Ländern. Es ist heutzutage ein jüdisches Leben unter Polizeischutz geboten. Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen, in welcher Form unsere Kinder aufwachsen. Ich kann das nur für unseren Bereich sagen, aber es gibt Kinder, die täglich unter Polizeischutz in Schule oder Kindergarten oder weiterführende Schulen gehen.

Charlotte Knobloch: Politik, Gewerkschaften und Kirche lassen jüdische Gemeinschaften im StichBild: picture-alliance/dpa/G. Wijngaert

Das ist natürlich für uns eine sehr große Belastung, weil wir ja auch von jüdischen Menschen zu hören bekommen, dass sie wissen wollen, inwieweit sie in Deutschland auch eine Zukunft haben. Und es ist in anderen europäischen Ländern dasselbe.

Welche Forderungen stellen Sie an die Politik, damit sich das ändert? Müsste mehr für Antidiskriminierungsarbeit getan werden?

Ich mache da nicht nur der Politik einen Vorwurf, ich mache da auch den Kirchen und den Gewerkschaften Vorwürfe und verschiedenen anderen Gruppierungen, dass sie zwar Sonntagsreden halten, aber das Wort zum Volk fehlt mir. Da fehlt mir der große Aufschrei. Wir fühlen uns sehr allein gelassen. Und die Menschen, die daran denken, Deutschland zu verlassen, fühlen keine Empathie für sich. Und das, glaube ich, ist ein großes Thema, das man ändern sollte. Sonntagsreden allein genügen nicht.

"Sonntagsreden genügen nicht"

Was wünschen Sie sich denn konkret? Ein Aufschrei, würde das reichen? Würde das die Menschen erreichen, die sich auf der Straße antisemitisch äußern?

Wir haben im Herbst im östlichen Teil unseres Landes wichtige Wahlen, und wenn der Wähler nicht erkennen kann, dass er eventuell falsch wählt, dann muss er vorher Bescheid wissen und unterrichtet werden. Das ist für mich der Aufschrei, den ich verlange.

Sind dazu mehr Bildungsangebote nötig?

Alle möglichen Dinge sind dafür nötig! Für mich ist aber die Hauptsache das Gespräch mit den Menschen. Da sind die Kirchen, die Gewerkschaften und verschiedene Gruppierungen, die in der Lage sind, auf Menschen zuzugehen. Sie tun es aber nicht. Das ist, was mir fehlt.

Das Gespräch führten Tim Schauenberg und Lars Scholtyssyk.

Charlotte Knobloch war von 2006 bis 2010 Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland und zuvor zehn Jahre lang dessen Vizepräsidentin. Sie war außerdem Vizepräsidentin des Jüdischen Weltkongresses (WJC) und des Europäischen Jüdischen Kongresses (EJC).

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