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Politik

Koalition oder die Kunst des Konsenses

16. November 2017

Koalieren nennt man die Fähigkeit, den kleinsten gemeinsamen Nenner zu finden. Das ist bei vier beteiligten Parteien schwerer als bei zweien. Und erst recht, wenn dabei Rechte auf Linke treffen.

Symbolfoto Jamaika-Koalition
Bild: imago/Ralph Peters

Deutschland ist im Sondierungsmodus - seit 18. Oktober. Es wird viel über das Wenige berichtet, was nahezu nichts ist. Konjunktur hat beispielsweise der Satz: "Man könne sich vorstellen, dass es klappt mit Jamaika". Oder: "Wir haben uns etwas aufeinander zubewegt." Oder noch nichtssagender: "Wir haben noch eine Menge Arbeit vor uns." Der Kolumnist Henryk M. Broder erinnerte kürzlich in einer deutschen Zeitung daran, dass Gott die Welt in sechs Tagen erschaffen habe. Ein Ewigkeitsprojekt im Vergleich zum Pakt auf Zeit von vier Parteien namens Koalition.

Der Koalitionsvertrag - vom Brief zum Buch

Das Geschäft einer Regierungsbildung ist etwas für Geduldige. Zumindest in jüngerer Zeit. Das war nicht immer so. 1949 gewann Konrad Adenauer (CDU), der erste deutsche Kanzler, die Bundestagswahlen und bildete mit FDP und der DP (Deutsche Partei) eine Dreierkoalition. Einen Vertrag darüber gab es nicht. Die Parteivorsitzenden tauschten ein paar Ideen zum Besatzungsrecht, Wohnungsbau und den Arbeitnehmerrechten brieflich aus, das war es.

Mit ein paar Spiegelstrichen per Brief war 1957 alles klar: Konrad Adenauers Regierungskoalition standBild: picture alliance/K. Rohwedder

Selbst die erste SPD-Regierung unter Willy Brandt mit der FDP 1969, eine historische Zäsur, kam mit nur drei Wochen Verhandlungszeit aus. Damals ging es um die großen Linien der zukünftigen Politik ("Mehr Demokratie wagen" und eine neue Ostpolitik), das reichte für die Vertragsunterschriften.

Seit 1982 aber wächst sich der Koalitionsvertrag fast schon zur Buchstärke aus. Noch übersichtlich waren die 3900 Wörter bei Helmut Kohls erster Koalition mit der FDP, mit 13.200 Wörtern deutlich umfangreicher war der Parteienvertrag 1994 bei Kohls letztem Regierungsbündnis und schon 26.700 Wörter brauchten die Koalitionäre 1998 beim ersten rot-grünen Bündnis auf Bundesebene.

Der letzte Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD 2013 war schon so lang wie ein Krimi (185 Seiten), nur nicht so spannend. Das Papier für die neue Legislaturperiode dürfte Rekordhalter werden. Für eine vergleichsweise kurze Halbwertzeit eine enorme Fleißarbeit. Dafür, dass es eigentlich eher ein Dokument des Moments ist. Denn was wirklich in praktische Politik umgesetzt wird, entscheidet letztlich die Kanzlerin.

Nach den Wunden im Wahlkampf: Entfeindlichung der politischen Lager

Sondierungsgespräche und Koalitionsverhandlungen sind Foren für einen Beziehungsaufbau, sagt der Kommunikationsforscher Thorsten Hofmann im DW-Gespräch. Im Wahlkampf haben sich die politischen Kontrahenten teils erhebliche Wunden geschlagen, die müssen nun erst einmal geheilt werden, bevor man dann gemeinsame Sache macht. Und das kann dauern. Gut möglich, dass die neue Regierung erst im Januar 2018 steht. Also rund vier Monate nach der Wahl.

Angestrengte Blicke: Das erste Koalitionsgespräch 1969 im Kanzlerbungalow - Nach drei Wochen war alles geklärtBild: picture-alliance/Ulrich Baumgarten

Erklärbar ist das nur durch den totalen Beziehungswechsel, den die Koalitionäre während der Verhandlungen hinkriegen müssen. Hatten sie doch monatelang teils hochemotional Wahlkampf gegeneinander geführt. Die Verhandlungswochen sind deshalb so etwas wie das Abklingbecken für politisch erregte Gemüter. "Entfeindlichung" nennt das der Journalist Mathias Geis. Letztlich ist der Koalitionsvertrag eine Art Friedensdokument.

Von wegen Ideologie: Es geht um programmatische Ergänzungen

Dass demnächst die rechte CSU mit den eher linken Grünen am Kabinettstisch sitzt, wäre vor nicht allzu langer Zeit als politische Halluzination verhöhnt worden. Ob es der Wählerauftrag ist, bleibt unbeantwortet, allein die Mathematik bringt nun ideologisch sehr konträre Partner unter ein Dach.

Grundsätzlich aber gilt: Die Zeit der ideologischen Schlachten zwischen den Parteien ist vorbei. Heute geht es um Nuancen, um programmatische Ergänzungen. Die eigentlich Rechten sind vor allem politisch mittig und die nominell Linken sind längst Teil des Bauchs der Gesellschaft. Die bayrische CSU und Bündnisgrüne gemeinsam in der Regierung  - das ist inzwischen kein politisches Tabu mehr.

Vor Sondierung und Verhandlung: Merkel und Seehofer beenden den Flüchtlings-Schwesternstreit Bild: picture-alliance/dpa/M. Kappeler

Wäre da nicht die Flüchtlingspolitik, die seit 2015 gerade die Klientel dieser beiden politischen Lager gegeneinander aufgebracht hat. Auch in der aktuellen Sondierung ist das ein heikles Thema. Es ist sogar so grundsätzlich, dass die CDU-Vorsitzende Angela Merkel noch vor der Sondierungsphase erst einmal Einigkeit zwischen ihrer Partei und der bayrischen Schwester herstellen musste. Sie haben erreicht, was die deutsche Politik seit langem schon auszeichnet - manche sagen, so langweilig macht - sie haben einen Konsens gefunden.

Konsens ist König

Der Hang zur breiten Übereinstimmung, dem Konsens, fällt vor allem im Ausland auf. Deutsche Politik von außen betrachtet ist langweilig, bemerken in steter Regelmäßigkeit vor allem US-Medien, die unter Präsident Donald Trump das totale Gegenteil praktizieren: die vollständige Polarisierung der Gesellschaft. Und in den kriegs- und krisengeplagten Ländern Südosteuropas wird der politische Friede hierzulande regelmäßig ungläubig bestaunt. Gibt's denn so was?

Tatsächlich ist der deutsche politische Grundsatzstreit weitgehend ausgestorben. Weil es die großen Unterschiede nicht mehr gibt zwischen rechts und links, schwarz und rot. Und auch nicht zwischen grün und gelb. Die Grünen stellen inzwischen Oberbürgermeister in deutschen Großstädten und einen Ministerpräsidenten, sie tragen Auslandseinsätze der Bundeswehr mit. Selbst "Die Linke" plant keine Umkehr der bestehenden Verhältnisse mehr. Und die Konservativen (CDU und CSU) haben sich hinreichend sozialdemokratisiert.

Als es politisch noch grundsätzlich zuging: Hessische Grüne 1983, rechts der spätere Außenminister Joschka FischerBild: picture-alliance / dpa

Kein Raum mehr für Grundsatzdebatten, geschweige denn Streit. Warum also dann endlos lange Sondierungen, anschließende Verhandlungen, wenn alle sich so einig sind? Es sind die Nuancen, die inzwischen profilstiftend sind. Wenn sich alle in der Mitte tummeln, wird es schwer, sich unterscheidbar zu machen. Genau das macht die Regierungsbildung so zäh. Es wird um den Raum hinter dem Komma gerungen.

Der Konsens gilt nicht zu unrecht als große zivilisatorische Leistung, aber er führt auch zu langatmigen Gesprächen von vier Koalitionspartnern in spe, die sich weitgehend einig sind, aber nun wortreich die feinen Unterschiede herausarbeiten müssen. Das verlangt nicht zuletzt das Parteivolk und die Wähler - man will sich schließlich wiedererkennen. Und das dann auf vermutlich dreihundert oder vierhundert Seiten.

Aber wirklich gelesen wird ein Koalitionsvertrag nur von ganz wenigen Zeitgenossen.

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