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Politik

Kohl und Russland: Eiszeit, Wende, Aufbruch

Roman Goncharenko
17. Juni 2017

Als Kanzler erlebte Helmut Kohl vier sowjetische Staatschefs und einen russischen. In den Geschichtsbüchern steht sein Name neben Gorbatschow. Die engste Freundschaft pflegte er aber zu einem anderen Kreml-Chef.

Kohl und Gorbatschow im Kaukasus
Bild: picture-alliance/dpa

Wer in der beliebtesten russischen Onlinesuchmaschine Yandex nach den Stichworten "Helmut Kohl" und "Russland" sucht, findet viele Treffer aus dem Jahr 2014. "Helmut Kohl hat sich gegen eine Isolation Russlands ausgesprochen", schrieb im November die Regierungszeitung "Rossijskaja gaseta". Anlass war sein neues Buch "Aus Sorge um Europa". Darin kritisierte der Altbundeskanzler den Ausschluss Russlands aus der Gruppe der größten Industrienationen (G8) wegen der Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim. Kohl, der die Aufnahme Russlands in den informellen Club 1998 durchgesetzt hatte, empfand Moskaus Rauswurf als "einschneidend und auch bedrückend".

Außerdem sorgte der CDU-Politiker mit kritischen Äußerungen über seine politische Ziehtochter Angela Merkel für Applaus in Russland. Die im Oktober veröffentlichten Auszüge seiner Gespräche mit einem Journalisten wurden von russischen Medien benutzt, um über die Bundeskanzlerin zu spotten. Merkel hat sich in Russland spätestens seit Beginn der Ukraine-Krise unbeliebt gemacht.

So viel Aufmerksamkeit wie im Herbst 2014 bekam Kohl in Russland zuletzt eher selten. In den fast zwei Jahrzehnten seit seinem Ausscheiden aus dem Kanzleramt ist in Russland eine ganze Generation herangewachsen, die den deutschen "Kanzler der Einheit" nur aus den Geschichtsbüchern kennt. Dabei hatte Kohl in den 16 Jahren seiner Amtszeit so viele Staatschefs in Moskau erlebt wie kein anderer vor und nach ihm. Ein Rückblick.

Eiszeit im Kalten Krieg 

Als Helmut Kohl am 1. Oktober 1982 vom Bundestag zum Kanzler gewählt wird, erlebt der sowjetische Parteichef Leonid Breschnew seine letzten Wochen. Nach seinem Tod im November rückt Juri Andropow, Chef des Geheimdienstes KGB, an die Staatsspitze. Kohl trifft sich mit ihm in Moskau im Juli 1983.

Anders als sein Amtsvorgänger Helmut Schmidt, der im Zweiten Weltkrieg an der Ostfront kämpfte, hat Kohl keine persönliche Beziehung zur Sowjetunion. Die Stimmung zwischen Moskau und Bonn sei damals "relativ schlecht" gewesen, insbesondere wegen der Rüstungsfrage", sagt Professor Andreas Wirsching, Leiter des Münchner Instituts für Zeitgeschichte, der DW. Seit 1979 hätten der NATO-Doppelbeschluss und der sowjetische Einmarsch in Afghanistan das Verhältnis zwischen dem Westen und dem Ostblock belastet, sagt Wirsching, der auch Co-Vorsitzender der deutsch-russischen Historikerkommission ist. 1983 stimmt der deutsche Bundestag für die Stationierung neuer US-Atomraketen in der BRD. Das habe Konsequenzen für die Beziehungen zu Moskau, sagt Wirsching: "Danach gab es eine Eiszeit."

Wurden erst nach einem holprigen Start Freunde: Kohl und GorbatschowBild: picture-alliance/dpa

Skandal wegen Goebbels-Vergleich 

Der Wechsel im Kreml, als 1984 Konstantin Tschernenko auf den gestorbenen Andropow folgt, bringt keine Veränderung. Erst als 1985 Michail Gorbatschow neuer Parteichef wird, stehen die Zeichen auf eine Annäherung. Doch zunächst bremst ein Skandal diesen Prozess aus. In einem Interview für das US-Nachrichtenmagazin "Newsweek" im Oktober 1986 vergleicht der Bundeskanzler den sowjetischen Parteichef mit dem Nazi-Propagandisten Joseph Goebbels. "Ich halte ihn nicht für einen Liberalen", sagt Kohl über Gorbatschow, sondern für einen "modernen kommunistischen Führer", der "was von PR" verstehe. Er fügt hinzu: "Goebbels verstand auch etwas von PR."

Moskau ist verärgert und lässt geplante Besuche westdeutscher Politiker platzen. "Das war ein Tiefpunkt in den Beziehungen zwischen Kohl und Gorbatschow", sagt der Historiker Wirsching aus München. In der Sowjetunion wird der Skandal nicht publik. "Das ist unbemerkt geblieben", sagt Wladislaw Below, Leiter des Zentrums für Deutschland-Studien an der Russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau. Die Glasnost, Gorbatschows neue freie Informationspolitik, sei später eingeführt worden.

Der Durchbruch in Bonn und im Kaukasus

Erst bei Kohls Besuch in Moskau 1988 scheint der Ärger vergessen. Der wirkliche Durchbruch komme aber noch ein Jahr später, meint Below. "Ich vermute, dass Gorbatschow während seines Besuchs in Bonn im Juni 1989 eine grundlegende Entscheidung über eine qualitative Änderung in Beziehungen zur BRD trifft", sagt Below. Als im November die Berliner Mauer fällt, sei Gorbatschow dazu bereit, vermutet der Moskauer Experte. Er gibt jedoch zu, dass Gorbatschow ihm gegenüber das nicht bestätigt habe. Fest steht: Die Sowjetunion mischt sich nicht ein.

Als weiterer Höhepunkt gilt das Treffen im Juli 1990 im sowjetischen Archys im Kaukasus. Gorbatschow und Kohl besiegeln überraschend schnell die Vereinigung von BRD und DDR. Below - wie Viele im heutigen Russland - werfen Gorbatschow vor, naiv gehandelt zu haben. "Gorbatschow gibt in Archys alles auf, er feilscht nicht mit den Deutschen", sagt Below. Der Moskauer Experte erklärt es mit der "Droge der Popularität", die Gorbatschow genossen habe.

Gekaufte Wiedervereinigung?

Außer der Wiedervereinigung beschließen Kohl und Gorbatschow den Abzug sowjetischer Truppen aus der DDR. Die Kosten für die Rückreise einer rund 500.000 Mann starken Armee übernimmt die Bundesregierung. Deshalb erinnern sich ehemalige sowjetische Offiziere bis heute mit Dankbarkeit an Helmut Kohl. Bis zum Abzug der Truppen nach Russland 1994 bekommen sie ihre Gehälter in westdeutscher D-Mark und können sich westlichen Luxus wie Waschmaschinen, Audiosysteme oder Autos leisten.

Seit Ende der 1980er-Jahre helfen westdeutsche Banken und die Bundesrepublik der wirtschaftlich angeschlagenen UdSSR mit Milliardenkrediten. Andreas Wirsching gibt zu, dass die starke Wirtschaft der BRD bei politischen Gesprächen geholfen habe. Die These über eine "gekaufte Wiedervereinigung" hält er jedoch für falsch. "Die Voraussetzung war der politische Umbruch in der internationalen Politik", sagt der Münchner Historiker.

Kohls engster russischer Freund war Boris Jelzin (Mitte, winkend)Bild: Picture-Alliance /dpa

Männerfreundschaft mit Jelzin

Obwohl Kohl und Gorbatschow am Ende gute Beziehungen hatten, eine gewisse Distanz sei geblieben, sagen Experten. Nach dem Zerfall der UdSSR 1991 begann eine neue Ära. Mit dem ersten russischen Präsidenten Boris Jelzin entwickelt der gesamtdeutsche Bundeskanzler eine Männerfreundschaft. Sie geht so weit, dass beide Politiker im Juli 1993 zusammen in einer Sauna am Baikalsee schwitzen. "Es war die Zeit der Aufbruchstimmung zwischen Russland und Deutschland," sagt Professor Wirsching.

"Die Chemie zwischen Kohl und Jelzin stimmte", sagt der Moskauer Experte Below. Deutschland habe Russland in schwierigen Zeiten geholfen. Dafür müsse Russland Kohl dankbar sein. Doch in die russischen Geschichtsbücher gehe Kohl in erster Linie als jemand, der Deutschland vereinigt habe.