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Politik

Kolonialgeschichte: weißer Fleck im Unterricht?

8. Oktober 2020

Viele deutsche Schüler lernen nichts über die koloniale Vergangenheit ihres Landes. Denn meist liegt es am Engagement der Lehrer, ob etwa der Völkermord in Namibia im Unterricht vorkommt. Aktivisten wollen das ändern.

Namibia Geschichte Deutsch-Südwestafrika Gefangene Hereros
Gefangene Hereros im damaligen Deutsch-Südwestafrika (1904/1905)Bild: ullstein bild

Das Lernblatt zeigt Hendrik Witbooi auf dem 200-Dollar-Schein seiner Heimat Namibia. Was die Schüler erfahren: Witbooi kämpfte gegen die deutsche Besatzung Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. Die Deutschen verübten dort einen Völkermord an den Herero und Nama. Noch immer wird Witbooi in Namibia als Held des Freiheitskampfes gegen die Kolonialmacht Deutschland verehrt.

Doch kaum ein Schüler in Deutschland dürfte Witbooi kennen. Denn dieses Lernblatt ist nicht Teil der offiziellen Lehrmaterialen, die im Unterricht zum Einsatz kommen. Das Bündnis "Gemeinsam für Afrika" hat die Inhalte über Witbooi und andere Themen der deutschen Kolonialgeschichte erstellt - in der Hoffnung, dass engagierte Lehrer sie mit ihren Schülern durcharbeiten.

95.000 Unterschriften für anderen Unterricht

Denn in den offiziellen Schulbüchern, in den Lehrplänen deutscher Schulen, nehmen die 30 Jahre deutscher Kolonialgeschichte in Afrika und im Westpazifik fast keinen Raum ein. In einigen Bundesländern kommt das Thema im Unterricht gar nicht vor, in anderen nur am Rande. "Deshalb sollte es eine Überarbeitung der Lehrbücher und Lehrpläne geben", sagt Abigail Fugah. Die 26-jährige Kölnerin hat eine Petition gestartet, die sich genau dafür einsetzt. Fast 95.000 Menschen haben bereits unterschrieben. 

Volksheld: Hendrik Witbooi kämpfte gegen die deutschen Besatzer in NamibiaBild: Shotshop/imago images

"Es reicht nicht aus, was aktuell in den Schulen gelehrt wird", so Fugah im Gespräch mit der DW. In ihrer eigenen Schulzeit hätten die Lehrer die deutsche Kolonialgeschichte und das Thema Rassismus im Unterricht so gut wie gar nicht behandelt, sagt Fugah. Dafür sei sie oft genug selbst Rassismus ausgesetzt gewesen. "Ich habe es nicht einfach gehabt während der Schulzeit. Meine Eltern stammen beide aus Ghana."

Alt genug für Anti-Rassismus

Auch im Westen Afrikas, in der heutigen Republik Togo und in Teilen des heutigen Ghana, herrschten von 1884 bis 1916 deutsche Kolonialbeamte. Togo galt dem Deutschen Reich als "Musterkolonie", doch auch hier beuteten die Deutschen Rohstoffe aus, verweigerten den Togoern ihre Rechte, straften sie mit Prügeln. 

Abigail Fugah aus Köln setzt sich für mehr Kolonialgeschichte im Unterricht einBild: Privat

Nur wenn man diese Kolonialgeschichte kenne, könne man auch den gegenwärtigen Rassismus verstehen, sagt Fugah. "Wenn schwarze Kinder alt genug sind, Rassismus zu erfahren, dann sind weiße Kinder auch alt genug, um etwas darüber zu lernen."

Kritik von Lehrern, Engagement von Lehrern

Die Reaktion auf ihre Petition sei sehr gemischt, sagt Fugah. "Die meisten Kritiker sind Lehrer*innen. Sie werfen uns vor, zu übersehen, dass die Kolonialgeschichte in den Lehrplänen jetzt schon vorkommt. Aber das Problem ist: Es ist kein verpflichtender Stoff." Der Mord an sechs Millionen Juden im Holocaust, der Zweite Weltkrieg, der Kalte Krieg zwischen Ost und West mit der Teilung Deutschlands - all das sind große und wichtige Themen im deutschen Geschichtsunterricht. Für anderes bleibt da wenig Zeit.

So blickte Deutschland 1936 auf den Völkermord an den Herero zurück: Sammelbildchen aus einer ZigarettenschachtelBild: picture-alliance/Heritage-Images/The Print Collector

Es sei denn, man nimmt sie sich. So wie Imke Stahlmann. Sie ist Lehrerin am Gymnasium Farmsen in Hamburg. "Das Thema deutsche Kolonialgeschichte behandeln wir seit ungefähr 15 Jahren relativ intensiv mit Schülerinnen und Schülern der Oberstufe bei uns an der Schule", sagt sie der DW. Die Kolonialgeschichte sei schließlich ein Thema, "das wahnsinnig relevant ist für das Verständnis so vieler internationaler aktueller Fragen".

Schüler am Kriegerdenkmal

Ihr sei deshalb wichtig, die Verbindung zwischen Kolonialgeschichte und Alltagsrassismus zu beleuchten. "In diesem Jahr besonders mit Blick auf das, was sich im Zuge der Black-Lives-Matter-Bewegung ereignet hat." Ihre Schülerinnen und Schüler seien sehr motiviert, sich damit auseinanderzusetzen - auch über den Unterricht hinaus.

Schülerinnen und Schüler am Deutsch-Ostafrika-Kriegerdenkmal in Hamburg-JenfeldBild: Imke Stahlmann

So haben Stahlmanns Schülerinnen und Schülern etwa das Deutsch-Ostafrika Kriegerdenkmal in Hamburg-Jenfeld besucht. Dort wird an die deutsche Kolonialgeschichte erinnert - mit Denkmälern, die während des Nationalsozialismus geschaffen wurden. Das Askari-Relief etwa zeigt die Kolonialoffiziere als Helden und Anführer, denen einheimischen Soldaten gehorsam folgen. "Wir haben darüber nachgedacht, was wir von dem Umgang mit diesem Denkmal halten", sagt Stahlmann. "Und die Schüler haben tatsächlich angefangen, Alternativvorschläge zu entwickeln."

Reise in die koloniale Vergangenheit

Seit 2018 steht das Gymnasium Farmsen im Austausch mit der Chang'ombe Secondary School in Daressalam in Tansania. "Wir haben festgestellt, dass wir uns im Geschichtsunterricht an beiden Schulen mit ganz ähnlichen Themen beschäftigen, unter anderem eben mit dem Imperialismus und der Kolonialgeschichte", so Stahlmann. "Und daraus ist die Idee entstanden, dass wir unseren Schülern die Möglichkeit geben wollen, gemeinsam an diesem Thema zu arbeiten."

Filmdreh deutscher und tansanischer Schüler in HamburgBild: Imke Stahlmann

Schüler aus der ehemaligen Kolonialmacht Deutschland und der ehemaligen Kolonie Deutsch-Ostafrika tauschten sich also aus über ihre gemeinsame Geschichte. Höhepunkt war ein gegenseitiger Besuch. In Hamburg drehten die Schülerinnen und Schüler am Kolonialdenkmal zusammen einen Film.

Abigail Fugah und anderen Aktivisten ist klar, dass nicht jede Schule einen solchen Austausch organisieren kann. Sie wünscht sich jedoch, dass jeder Schüler und jede Schülerin in Deutschland Gelegenheit hat, sich mit der kolonialen Vergangenheit, ihrem Erbe und mit eigenem Rassismus auseinanderzusetzen. Fugah selbst will dazu beitragen: Sie lässt sich zur Zeit ausbilden, um in Zukunft unter anderem in Schulen Anti-Rassismus-Training anzubieten.

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