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Politik

Kolumbien und die Dämonen des Friedens

Cristina Esguerra kk
15. August 2017

Im Bürgerkrieg in Kolumbien töteten Militärs unschuldige Zivilisten und gaben sie als FARC-Rebellen aus. Nun entscheidet das Oberste Gericht über die juristische Aufarbeitung dieser Morde. Von Cristina Esguerra, Bogotá.

Kolumbien Aktion Opfer von Staatsgewalt
Eine Mutter protestiert: Der Sohn von Luz Marina Bernal wurde von den Militärs ermordet, für die FARC kämpfte er nicht Bild: DW/M. Sánchez

Am frühen Morgen des 8. Januar 2008 verließ Luz Marina Bernal ihr Haus, um ihren Mann zu Einkäufen zu begleiten. Als sie am Nachmittag gegen 16 Uhr zurückkam, fand sie niemanden zu Hause. Drei ihrer Kinder, vermutete sie, waren im Schulunterricht. Und ihr zweitältester Sohn, Fair Leonardo, half vermutlich jemandem aus der Nachbarschaft. Leonardo war ein netter, hilfsbereiter Mensch, der anderen gerne zur Hand ging. Doch er kam nie wieder nach Hause.

In den folgenden Monaten suchten Luz Marina und ihre Familie Leonardo ohne Unterlass. Sie besuchten Krankenhäuser, Gefängnisse und gerichtsmedizinische Institute, begaben sich unter die Obdachlosen und Drogenabhängigen von Bogotá. "Ich selbst hatte geregelte Mahlzeiten, wusste aber nie, ob auch mein Sohn genügend zu essen bekäme oder ein sauberes Bett hätte", erinnert sich Luz Marina an die nervenaufreibende Zeit der Suche.

Am 16. September bekam sie einen Anruf von einem gerichtsmedizinischen Institut. "Ich wusste sofort, dass es um meinen Sohn ging, dass er tot war." Der Sterbeurkunde zufolge war Fair Leonardo Porras am 12. Januar 2008 in Ocana im Department Norte Santander, über 1000 Kilometer von seinem Elternhaus entfernt, bei Zusammenstößen zwischen Aufständischen und einer Militärbrigade getötet worden. Der Sterbeurkunde zufolge war er der Führer der Rebellen.

"Falsche Positive" erstmals vor Gericht

Nach einem sich über vier Jahre erstreckenden Gerichtsprozess konnte Luz Marina beweisen, dass ihr Sohn weder Mitglied, geschweige denn Anführer einer aufständischen Gruppe war. Der 26-Jährige war geistig zurückgeblieben. Zudem konnte er seinen rechten Arm nicht richtig benutzen und hinkte mit dem rechten Bein.

Es war das erste Mal, dass ein Fall der so genannten "falschen Positiven" als Verbrechen gegen die Menschlichkeit anerkannt wurde. Sechs Mitglieder des Militärs wurden - unter anderem - wegen gemeinsamer Anstiftung zu einem Verbrechen zu über 50 Jahren Haft verurteilt.

Angehörige erinnern auf der Bolivar Plaza in Bogotá an ihre ermordeten VerwandtenBild: DW/M. Sánchez

Der Prozess um Fair Leonardo lieferte zweierlei Erkenntnisse. Erstens, dass ein solches Verbrechen vor einem ziviles Gericht verhandelt werden sollte. Und zweitens, dass es sich bei diesem Verbrechen nicht um einen isolierten Einzelfall handelte, begangen von einigen wenigen Militärs. Dahinter stand das Ziel, das Militär im Kampf gegen die Guerillas als Sieger zu präsentieren.

Statistik des Todes

Unter der Regierung von Kolumbiens Ex-Präsident Alvaro Uribe (2002-2010) wurden die Streitkräfte mit Geld, Beförderungen, Medaillen, Urlaubstagen und anderen Dingen belohnt, wenn sie regierungsfeindliche Rebellen - allen voran die Mitglieder der linksradikalen FARC (Fuerzas Armadas Revolucionarios de Colombia, Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens) töteten.

Zu diesem Zweck schreckten die Militärs nicht davor zurück, die Statistik durch die Ermordung unschuldiger Zivilisten zu frisieren. "Alvaro Uribe hat gelogen, als er sagte, dass in seinen acht Regierungsjahren 7000 Aufständische getötet wurden. Die Militärs töteten keine Rebellen, sondern unsere Kinder", sagt Luz Marina.

Männer aus verarmten Familien wie Fair Leonardo, bisweilen auch Frauen und Jugendliche, wurden entführt, erschossen und dann als angebliche, im Kampf getötete Guerilla-Mitglieder ausgegeben. Bislang sind rund 5000 Fälle von solchen "falschen Positiven" bekannt. Die meisten gehen auf den Zeitraum zwischen 2002 und 2010 zurück.

Zu Guerilla-Kämpfern deklariert: Bilder der "Falschen Positiven"Bild: DW/C. Esguerra

"Rund 97 Prozent der Fälle wurden bislang juristisch nicht geahndet, sagt Carolina Lopez Giraldo, Mitglied des Komitees zur Verteidigung der Menschenrechte im Departement Caldas.

Streit um juristische Aufarbeitung

Nachdem im Dezember 2016 das Friedensabkommen zwischen der Regierung und den FARC-Rebellen unterzeichnet wurde, dreht sich die öffentliche Debatte nun darum, wie Fragen historischer Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung aufgegriffen werden, und wie die Frage der "Falsos Positivos" beurteilt werden sollen. Strittig ist, ob sie vor der im Rahmen des Friedensvertrags geschaffenen Übergangsjustiz, der Jurisdicción Especial Para la Paz ("Besondere Rechtsprechung für den Frieden", JEP), verhandelt werden soll. 

"Alle sechs Männer, die an Fair Leonardos Tod beteiligt sind, spekulieren darauf, dass sie von der JEP profitieren", sagt Luz Marina. Entscheidend für ihre Verurteilung ist die Frage, ob die Verbrechen letztlich auf den bewaffneten Konflikt in Kolumbien zurückzuführen sind. Die Antwort auf diese Frage hat für die Urteilsfindung erheblichen Einfluss.

Stiller Protest: Bislang wurden nur wenige der verantwortlichen Militärs zur Rechenschaft gezogenBild: DW/C. Esguerra

Für Carolina Lopez Giraldo und Luz Marina Bernal wurden die "Falschen Positiven" von den Militärs ermordet, weil dies zu persönlichen Vorteilen in den Streitkräften führte. Mit dem Konflikt selbst hätten die Mordfälle ihrer Ansicht nichts zu tun.

Juan Carlos Henao, Präsident der Universität Externado in Bogotá und einer Anwälte auf seiten der kolumbianischen Regierung während der Friedensverhandlungen mit den FARC, sieht das anders. Seiner Einschätzung nach haben die nun verhandelten Fälle durchaus einen indirekten Bezug zum bewaffneten Konflikt. Sein Argument: Die Statistiken zu den getöteten Guerilleros gehen auf eine Initiative des Staates zurück.

Erwartungen an neue Wahrheitskommission

Zusätzlich zur Übergangsjustiz JEP soll auch eine Wahrheitskommission nach dem Vorbild von Südafrika eingerichtet werden. "Auf diese Weise ist die juristische Wahrheit von derjenigen getrennt, die die Wahrheitskommission zu finden versucht", sagt Henao. "Beide Einrichtungen unterscheiden sich. Die eine sollte die andere nicht behindern."

Eine Forderung der Angehörigen: Die Militärs gehören vor ein ziviles GerichtBild: DW/C. Esguerra

Laut einem Bericht des einflussreichen Nachrichtenmagazins Semana wurden allein bis zum Jahr 2015 rund 3000 Militärmitglieder von Angehörigen der "Falschen Positiven" angeklagt. Von ihnen wurden 815 verurteilt. Darunter fanden sich allerdings nur fünf befehlshabende Militärs. Die übrigen waren meist Soldaten oder Feldwebel. Zu der Zeit, als Semana den Artikel veröffentlichte, wurden fünf weitere Oberstleutnants für den Mord an 72 Zivilisten im Zeitraum zwischen 2006 und 2007 verurteilt.

Verbrechen gegen die Menschlichkeit

Der Internationale Strafgerichtshof kann in die Verhandlungen eingreifen, wenn Verbrechen gegen die Menschlichkeit ungesühnt bleiben. An den Fällen von "Falschen Positiven" hat er sein besonderes Interesse bereits signalisiert. Sein Augenmerk ruht auf 23 Generälen und sechs Befehlshabern, darunter der derzeitige Kommandeur der Streitkräfte, General Juan Pablo Rodriguez Barragan.

"Der Gedanke, dass die Soldaten aus ähnlichen Familien wie meine kommen, schmerzt", sagt Luz Marina. Diejenigen, die kämpfen, sind nicht die Söhne von Senatoren oder Kongressabgeordneten, Es sind unsere Kinder, die ihrem Land dienen. Krieg heißt, dass arme Menschen noch ärmere töten."

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