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Politik

Oma, warum bist du Kommunistin geworden?

Mu Cui, DW-Mitarbeiter chinesische Redaktion | PROVISORISCHES Kommentarbild
Mu Cui
1. Juli 2021

Die Kommunistische Partei Chinas feiert ihren 100. Gründungstag. Die Oma von DW-Redakteur Mu Cui ist seit über 70 Jahren überzeugte Kommunistin. Aber mit der jetzigen Linie der Partei ist die 90-Jährige nicht zufrieden.

Kurz vor dem 100. Jubiläum der Kommunistischen Partei Chinas hat meine Oma in Shanghai ihren 90. Geburtstag gefeiertBild: privat

Meine Oma ist nur zehn Jahre jünger als die Kommunistische Partei Chinas - vor wenigen Wochen hat sie im Kreis der Familie in Shanghai ihren 90. Geburtstag gefeiert. Leider war es aufgrund der Corona-Pandemie für mich unmöglich, zu Omas Feier zu reisen. Stattdessen haben wir mehrfach telefoniert - und das waren sehr interessante Gespräche.

"Wie bist Du 1948 überhaupt auf die Idee gekommen, einer damals verbotenen und im Untergrund arbeitenden kommunistischen Organisationen beizutreten?", habe ich sie zum Beispiel gefragt.

DW-Redakteur Mu Cui telefoniert oft mit seiner Oma in Shanghai. Dieses Foto stammt aus dem Sommer 1987Bild: privat

"Kommunismus steht für soziale Gerechtigkeit"

Omas persönliche Geschichte kannte ich vorher schon recht gut. Insbesondere die verrückte Mao-Zeiten interessiert mich schon lange - darüber habe ich gemeinsam mit meinen Volontariatskollegen vor sieben Jahren das crossmediale Projekt "Meine Oma, das Regime und ich" produziert, für das wir sogar den CNN-Journalist-Award gewonnen haben. Ich wusste also, wie meine Großeltern in der dunkelsten Zeit der KP Chinas gelitten haben und wie mühsam - aber auch wirksam - meine Oma die Familie damals zusammenhielt.

Aber warum wurde aus einem 17-jährigen Schulmädchen eigentlich eine Kommunistin, noch bevor die Partei im Jahr 1949 überhaupt an die Macht kam? Diese eine Frage hatte ich ihr noch nie gestellt. Ihr runder Geburtstag und das KP-Jubiläum waren mir nun Anlass.

Als junge Frau wurde die Oma unseres Autors überzeugte Kommunistin. Das Bild stammt ungefähr aus dem Jahr 1950Bild: privat

"Ach, das ist einfach zu beantworten: Meine Lehrerin war Kommunistin und hatte uns damals mit kommunistischen Werten überzeugt." So erzählte mir meine Oma, dass ihre Lehrerin sie und ihre Mitschülerinnen durchs Elendsviertel in Shanghai geführt und ihnen die krasse soziale Ungleichheit gezeigt hatte. Dadurch wurde meine Oma, ein Mädchen aus der sogenannten "oberen Mittelschicht", auch darauf aufmerksam, dass sogar einige ihrer Mitschülerinnen offenbar unter wirtschaftlichen Problemen zuhause litten. "Sie hatten oft nicht genug zum Mittagessen in der Schule dabei. Und im Elendsviertel konnten sich viele Eltern gar nicht leisten, Kinder in die Schule zu schicken."

Versprechen von Demokratie, Freiheit und Wohlstand

"Und so bist Du Kommunistin geworden, weil Du geglaubt hast, die KP könne dieses Elend beseitigen?" fragte ich weiter. "Ja. Meine Lehrerin hat uns immer gesagt, Kommunisten sind für die armen Leute da. Und so fing ich an, zumindest etwas mehr zum Mittagessen in die Schule zu bringen, damit ich mit meinen Mitschülerinnen teilen konnte. Später habe ich sogar meine Eltern überredet, den Eltern eines Mitschülers, die offenbar in Schwierigkeiten steckten, Jobs anzubieten."

Die Großeltern von Mu Cui im Februar 2014. Wenige Monate später verstarb sein OpaBild: privat

Ihrer Ansicht nach stand die KP Chinas für das Ideal, immer für die Schwachen zu kämpfen und den notleidenden Arbeitern und Bauern zu helfen. Mein Opa, der noch etwas früher einer der damals verbotenen und im Untergrund arbeitenden Organisationen beigetreten war, hatte sich deutlich mehr von dieser Partei gewünscht. Bis zu seinem Tod im Jahr 2014 betonte er immer wieder, er sei damals ein revolutionärer Kommunist geworden, um "ein demokratisches, freies und wohlhabendes neues China" aufzubauen. "Das damalige Regime hatte von meiner kommunistischen Parteimitgliedschaft erfahren und mich deswegen verfolgt. Zum Glück konnte ich immer rechtzeitig fliehen. Dann kam meine Partei an die Macht, wenige Jahre später fiel ich einer 'Säuberung' zum Opfer und wurde 20 Jahre in die Verbannung geschickt. Und heute fragt man sich immer noch: Wo ist die Demokratie? Wo sind die freiheitlichen Ideale, die uns damals versprochen wurden?"

Für das DW-Projekt "Meine Oma, das Regime und ich" erzählte Mu Cuis Großmutter ihre Erlebnisse während der KulturrevolutionBild: privat

Für meine Oma hat die Partei immerhin geschafft, dem bitterarmen China binnen weniger Jahrzehnte - insbesondere seit Maos Tod - beachtlichen Wohlstand zu bringen. "Von oben nach unten, jeder hat davon profitiert!" Dennoch vertraut sie ihrer eigenen Partei nicht mehr - jedenfalls nicht so wie damals, 1948. "Und das ist nicht nur, weil Demokratie und Freiheit bis heute zu kurz gekommen sind."

Wachstum für alle, Wachstum über alles

"Weswegen denn?" fragte ich neugierig. "Die Mächtigen beginnen wieder, die Schwächeren auszubeuten. Das ähnelt dem 'alten China', also bevor die KP 1949 an die Macht kam. Die sozialen Unterschiede vergrößern sich wieder rasant - trotz des wachsenden Wohlstandes für alle."

In diesem Gebäude in Shanghai wurde 1921 die KP Chinas gegründetBild: Fang Zhonlin/dpa/picture-alliance

Ich erinnere mich noch an ein Familientreffen vor wenigen Jahren. Mein Onkel, also ihr eigener Sohn, der als Manager in einem südchinesischen Großkonzern arbeitet, klagte, es werde immer schwieriger, in den reichen Küstenprovinzen billige Arbeitskräfte zu finden. Stattdessen müsse er inzwischen Fließbandarbeiterinnen aus den ärmeren westchinesischen Provinzen holen, was sehr umständlich sei. "Immerhin kosten die nur halb so viel wie die aus Küstenprovinzen - so können wir auf dem Weltmarkt weiterhin konkurrenzfähig bleiben" prahlte mein Onkel. Sofort bekam er Gegenwind von seiner Mutter: "Gleicher Lohn für gleiche Arbeit! Was Du machst, ist meiner Meinung nach nichts anders als Ausbeutung! Bist Du vor einigen Jahren nicht selbst der Kommunistischen Partei beigetreten?"

Solch "moderne" KP-Mitglieder wie ihren Sohn nennt meine Oma mittlerweile scherzhaft "Opportunisten" oder "Karrieristen". Und sie ist traurig, dass die revolutionären und progressiven Kräfte in der Partei längst in den Hintergrund gedrängt wurden.

Wer ist heute das Ungeheuer?

Das bestätigt auch Klaus Mühlhahn, Professor für Sinologie und Geschichte an der Zeppelin-Universität Friedrichshafen. Im Gespräch mit der DW sagt er, dass die ursprünglichen Ideale heute tatsächlich keine große Rolle mehr spielen. "Was die heutige Zeit kennzeichnet, ist das Ideal einer Supermacht mit der großen Ambition, das Land zu Reichtum und Macht zu führen. Da ist die Partei ja erfolgreich. Aber es sind auch völlig neue Ungleichheiten entstanden, obwohl der allgemeine Lebensstandard steigt. Wenn man China heute mit anderen Ländern der Welt vergleicht, dann erkennt man, dass es in China wesentlich größere Unterschiede zwischen arm und reich gibt."

DW-Redakteur Mu Cui stammt aus Shanghai. Seit 2008 lebt er in DeutschlandBild: privat

"Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird." Dieses Zitat von Friedrich Nietzche beschäftigt mich, seit ich die Gespräche mit meiner Oma geführt habe. Wird die Partei, die ursprünglich gegen das Ungeheuer kämpfte, unter dem die Proletarier des chinesischen Volkes gelitten haben, selbst zum Ungeheuer? Oder ist sie schon eines geworden?

Offenbar sorgt sich das chinesische Volk nicht darum, ob die Partei zum Ungeheuer wird. Laut einer langjährigen Studie von Meinungsforschern der Harvard University ist die Zufriedenheit der Chinesen mit dem KP-Regime stetig gewachsen, mittlerweile liegt sie sogar deutlich über 90 Prozent. Für Sinologieprofessor Klaus Mühlhahn liegt es vor allem daran, dass die Wirtschaft und damit der Wohlstand in China Jahr für Jahr wächst. "Aber wenn die KP Chinas eines Tages ihr Versprechen von dauerhaftem Wachstum nicht mehr einhalten kann, dann werden die Rufe nach Gleichheit und nach Gerechtigkeit lauter. Dann wird die Partei an ihre ursprünglichen Ideale erinnert. Auch das Thema Demokratie, das innerhalb der KP Chinas trotz Säuberungen und Kampagnen nie ganz verschwunden ist, wird dann große Sprengkraft entwickeln."

Überzeugte Kommunistin, aber nicht linientreu

Nach dem Interview mit Professor Mühlhahn habe ich nochmals mit meiner Oma telefoniert und sie gefragt, ob die nun 100-jährige Partei zu dem Ungeheuer geworden ist, gegen das das 17-jährige Schulmädchen einst gekämpft hat. Diese Frage konnte oder wollte sie allerdings nicht beantworten. Sie wiederholte nur: "Es ist sehr traurig zu sehen, dass die progressiven Kräfte in der Partei seit der sogenannten Kulturrevolution immer weiter verdrängt werden."

Trotz ihrer Unzufriedenheit nimmt sie Einladungen zu einigen der offiziellen Feierlichkeiten in dieser Woche an. "Als Parteimitglied bin ich zwar nicht immer linientreu. Aber eine Kommunistin bin ich immer noch. Dafür gebe ich seit Jahrzehnten mein Bestes!"

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