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Politik

Das letzte Aufbäumen der Sowjetunion

19. August 2021

Am 19. August 1991 hielt die Welt den Atem an: Der Putsch in Moskau hatte Folgen sogar tief in der westdeutschen Provinz. War der Kalte Krieg doch noch nicht vorbei? Eine persönliche Erinnerung von Christian F. Trippe.

Boris Jelzin mit erhoben geballter Faust auf einem Panzer mit russischer Flagge vor dem russischen Regierungsgebäude in Moskau
Boris Jelzin ruft am 19. August 1991 auf einem Panzer zum Widerstand gegen die Putschisten aufBild: picture-alliance/dpa

Ich arbeitete damals als Reporter bei einem regionalen Fernsehsender in Düsseldorf und hatte einen Filmbeitrag über den bevorstehenden Abzug der Briten aus Deutschland vorbereitet. Am 19.  August, einem Montag, wollten die Streitkräfte ihrer Majestät bei einer Pressekonferenz bekanntgeben, was aus den mehr als 60 Standorten der sogenannten "Rheinarmee" werden sollte.

Der Kalte Krieg war ja vorbei, ganz Europa rüstete ab, überall wurden Kasernen geschlossen. In Deutschland freuten sich alle darauf, die "Friedensdividende" zu genießen. Das war die Stimmung, die sich nach dem Fall der Berliner Mauer breitgemacht hatte. Die Sowjetunion war kein Feind mehr, und unter Gorbatschows Führung konnten die Dinge nur noch besser werden - da waren wir uns in Westeuropa ganz sicher. "Gorbi" würde die Ost-West-Konfrontation der Nachkriegszeit endgültig beilegen.

"Alles ist gestoppt"

Nach dem Zweiten Weltkrieg waren in Westdeutschland britische Truppen stationiert worden, in Rheindahlen und Herford, in Bielefeld, Dortmund und anderswo. Zunächst als Besatzungstruppen, dann als NATO-Verbündete. Auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges waren es bis zu 100.000 Soldaten aus dem Vereinigten Königreich, viele von ihnen mit ihren Familien.

Christian F. Trippe leitet die Osteuropa-Redaktionen der DWBild: DW/B. Geilert

Ihr bevorstehender Abzug war ein weiterer Schritt auf dem Weg in eine Welt, in der es keine Rivalität zwischen Ost und West mehr geben sollte. Doch dann rief der Presseoffizier der Rheinarmee am Morgen des 19. August in der Redaktion an und informierte uns: "Alles ist gestoppt. Unsere Abzugspläne aus Deutschland sind ausgesetzt. In Moskau läuft ein Putsch. Wir hören sogar, dass Gorbatschow tot sein könnte." In London, so sagte er dann noch, berate das Krisenkabinett. 

Kurz darauf meldeten die Nachrichtenagenturen, dass der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl seinen traditionellen Sommerurlaub am Wolfgangsee abbrechen und sofort nach Bonn zurückkehren werde.

"Nicht allzu überrascht"

Kohl sagte viele Jahre später, der Putsch in Moskau habe ihn als solcher "nicht allzu überrascht", nur mit dem Zeitpunkt habe er nicht gerechnet. Am Abend berichtete die "Tagesschau", Deutschlands wichtigste Nachrichtensendung, dass sich Kohl mit den Partei- und Fraktionsvorsitzenden aller Parteien getroffen und über die Lage in Moskau beraten habe. Ein solches Treffen war (und ist) sozusagen die deutsche Variante eines Krisenkabinetts - immer, wenn viel auf dem Spiel steht, werden in Deutschland auch Spitzenpolitiker der Opposition in die Krisenpolitik eingebunden.

Helmut Kohl (li.) und Michail Gorbatschow (re.) hatten ein enges persönliches Verhältnis aufgebautBild: picture-alliance/dpa

Wie ernst die Lage tatsächlich war, wusste natürlich niemand. Aber ich erinnere mich noch gut daran, dass sich viele um Gorbatschows persönliches Wohlergehen sorgten. Und wie groß dann die Erleichterung war, als der sowjetische Staatschef nach drei Tagen wieder in Moskau auftauchte.

Die Auflösung der Sowjetunion beschleunigt

Das klägliche Ende des Putschversuches verschob die Gewichte im Moskauer Politikbetrieb und es setzte eine Art politischer Kettenreaktion in Gang. Wenige Tage nach dem Sieg des Volkes über die Putschisten kamen die Außenminister von Litauen, Lettland und Estland nach Bonn, in die damalige Bundeshauptstadt. Außenminister Hans-Dietrich Genscher empfing die Troika aus dem Baltikum. Deutschland und die drei Republiken im Baltikum wollten ihre diplomatischen Beziehungen wieder aufnehmen.   

Die Bürger der Sowjetunion, so schreibt Kohl in seinen Erinnerungen, hatten "einen großen Sieg für Demokratie, Freiheit und Recht errungen". Doch auch der deutschen Bundesregierung war klar, dass dieser Putsch die Auflösung der Sowjetunion beschleunigt und wohl unumkehrbar gemacht hatte - ein Prozess voller politischer Unwägbarkeiten. Genscher sprach im Rückblick von seiner und Kohls "Sorge, welche politischen, militärischen und wirtschaftlichen Folgen ein Zerfall der Sowjetunion nach sich ziehen mochte." Deshalb hätten er und Kohl die Pläne Gorbatschows gut geheißen, die Sowjetunion mit einem erneuerten Unionsvertrag von Grund auf zu erneuern - so notierte es Genscher vier Jahre nach dem Putsch.

Nach Gorbatschow nun Jelzin

Dieser Unionsvertrag kam bekanntlich nicht mehr zustande, und die Deutschen lernten neben dem hierzulande bis heute populären Michail Gorbatschow nun in Boris Jelzin einen zweiten russischen Politiker kennen. Der Mann auf dem Panzer vor dem Weißen Haus in Moskau, der Politiker, der sich den Putschisten mutig entgegengestellt hatte - diese Bilder Jelzins machten auch uns im Rheinland klar, dass in Moskau etwas ganz Neues begann.

Parade der britischen Rheinarmee in ihrer Garnisonsstadt HamelBild: picture-alliance/dpa

Der Putschversuch von Moskau hatte uns wie unter dem Brennglas gezeigt, wie fragil die Entwicklung in Moskau war. Die Kräfte des Beharrens in der alten Sowjet-Elite klammerten sich mit Gewalt an den Status Quo. Doch sie beschleunigten dadurch nur, was sie unbedingt verhindern wollten: den Zerfall der Sowjetunion.

Die Pläne für den Abzug der britischen NATO-Truppen aus Westdeutschland wurden dann übrigens ein paar Wochen später der Öffentlichkeit vorgestellt.

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