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Für neue Westbalkan-Politik: Täter bestrafen, Opfer hören

Christian Schwarz-Schilling
6. Juni 2023

Die US-Westbalkan-Politik leistet dem Ethnonationalismus in der Region Vorschub, schreibt der ehemalige Hohe Repräsentant für Bosnien und Herzegowina, Christian Schwarz-Schilling. Es sei Zeit für eine Kurskorrektur.

Bosnien und Herzegowina | Erinnerung an die Kriegsverbrechen in Prijedor
Viele Taten sind ungesühnt: Erinnerung an Kriegsverbrechen in der nordwestbosnischen Stadt Prijedor am 31.05.2023Bild: Dragan Maksimovic/DW

Am 18. Mai 2023 standen Derek Chollet, der Berater des US-Außenministeriums, und Gabriel Escobar, US-Sonderbeauftragter für den Westbalkan, im Ausschuss des amerikanischen Senats zur Außenpolitik (U.S. Foreign Relations Committee, FRC) Rede und Antwort zur Politik der USA auf dem Westbalkan.

Es war interessant, aber auch enttäuschend zu sehen und zu hören, wie beide US-Diplomaten und Mitgestalter der Westbalkan-Politik konkrete Antworten umgingen und detaillierte Informationen vermieden. Sie benutzten viele schöne Worte: Demokratie, Souveränität und territoriale Integrität - und vor allem den EU-Beitritt. Leider blieb es nur bei dieser Oberflächlichkeit ohne viel Substanz. Ich war enttäuscht.

Derek Chollet, Berater des US-Außenministeriums, hier in einer Aufnahme vom 14.07.2022Bild: Gemunu Amarasinghe/AP Photo/picture alliance

Vor 30 Jahren habe ich erlebt, wie die USA mit dem Außenminister Warren Christopher erfolglos versuchten, die starre EU zu einem wirklichen Engagement im ehemaligen Jugoslawien zu bewegen. Brüssels Haltung war eine Schande angesichts der damaligen Kriegsverbrechen.

Warum wird Vucic hofiert?

Ich erinnere mich noch sehr gut, wie der damalige US-Präsident Bill Clinton nach drei Jahren eines äußerst brutalen Krieges und Genozids in Bosnien und Herzegowina im Alleingang die Entscheidung traf, das Land zu unterstützen.

Und deshalb verstehe ich heute nicht, was die USA mit ihrer Politik auf dem Westbalkan verfolgen.

Serbiens Staatspräsident Aleksandar VucicBild: Darko Vojinovic/AP/picture alliance

Warum haben die pragmatischen Amerikaner den Präsidenten Serbiens, Aleksandar Vucic, als "starken Mann" auf dem Westbalkan auserwählt? Der FRC-Vorsitzende, Senator Robert Menendez, stellte bei der Anhörung mit Recht die Frage, warum die USA mit jemandem kooperierten, der, wie die New York Times ausführlich berichtete, enge Verbindungen in kriminelle Milieus pflege. Warum hofiert man jemanden, dem Russland strategisch sehr lieb ist. Warum sucht man die Nähe gerade mit Serbien, das mit seiner ethnonationalistischen Politik - alle Serben in einem Staat - einer der verheerenden Verursacher der Konflikte im ehemaligen Jugoslawien ist.

Zurück zum Ethnonationalismus?

Darauf konnten die beiden ranghohen politischen US-Diplomaten keine Antwort geben.

Aufgrund welcher Analysen werden einige Länder des Balkans bevorzugt und andere abgestraft?

Gabriel Escobar, US-Sonderbeauftragter für den WestbalkanBild: AP Photo/picture alliance

Es sind einige Analysen über die neue Ausrichtung der US-Politik auf dem Balkan veröffentlicht worden. Mit einigen stimme ich überein. Ich kann sogar verstehen, dass es auch Gründe gibt, warum die Amerikaner nach einer für sie vermeintlich pragmatischen Lösung suchen. Russland, China, Taiwan - all diese Länder haben weltpolitisch einen größeren Fokus als der Balkan. Das ist jedoch kein Grund, eine hegemonistische Politik in der Westbalkan-Region zu unterstützen, um neue Machtverhältnisse zu etablieren und dabei Länder wie Bosnien und Herzegowina, Montenegro oder Kosovo zu opfern.

Will man wirklich Bosnien und Herzegowina noch mehr in den Ethnonationalismus zurückwerfen? Obwohl man vorgibt, gerade diesen Ethnonationalismus zu bekämpfen?

Indirekte Hilfe für Sezessionismus

Obwohl man versucht, den Präsidenten der kleineren Entität in Bosnien und Herzegowina, der Republika Srpska, Milorad Dodik, mit Sanktionen und Ermahnungen in Schach zu halten, hilft man dabei dennoch indirekt, seine sezessionistischen Pläne durchzuführen. Die USA haben sich vorgenommen, gegen Korruption auf dem Westbalkan anzukämpfen, auch mit Sanktionen, und dennoch unterstützt man dabei die korruptesten Politiker.

Milorad Dodik, Präsident der Republika Srpska, einer der beiden Entitäten Bosnien und HerzegowinasBild: Dragan Maksimovic/DW Bosnisch

Erinnern wir uns, wie der jetzige US-Präsident Joe Biden in seiner damaligen Funktion als Senator vor diesem gleichen Ausschuss im April 1993 die USA mit seinem Bericht "To stand against the aggression: Milosevic, the Bosnian republic and the conscience of the West" (Sich gegen die Aggression stellen: Milosevic, die bosnische Republik und das Gewissen des Westens) dazu aufgefordert hat, Bosnien und Herzegowina zu helfen, den Krieg zu beenden.

Strategielos und gefährlich

Billigt Präsident Biden nun das, was das US-Außenministerium heute macht? Weiß er, dass man mit der jetzigen US-Politik gerade dabei ist, die Opfer der damaligen ethnischen Ziele der Kriege in den 1990er Jahren zu verhöhnen?

Einen Tag nach der Anhörung hat US-Präsident Biden im Senat James O'Brien als neuen Unterstaatssekretär für Europa und Eurasien vorgeschlagen. O'Brien wirkte 1995 am Dayton-Friedensabkommen mit und arbeitete ebenso in meiner Zeit als Hoher Repräsentant in Bosnien und Herzegowina in der von mir gegründeten Expertengruppe für Verfassungsreformen mit. Er ist ein erfahrener Jurist und ehemaliger US-Sonderbeauftragter für den Westbalkan, der sich in Bosnien und Herzegowina und der Region auskennt.

Unterzeichnung des Dayton-Abkommens am 14.12.1995 in Paris. Vordere Reihe von li.: die damaligen Präsidenten Serbiens, Kroatiens sowie Bosnien und Herzegowinas, Slobodan Milosevic, Franjo Tudjman und Alija IzetbegovicBild: Gerard Julien/dpa/picture alliance

Ich hoffe, dass man in Washington mit O'Briens Ernennung doch verstanden hat, dass man eine Kurskorrektur vornehmen muss, die die schädigende, strategielose, ergebnislose und gefährliche jetzige US-Westbalkan-Politik der vergangenen Jahre in neue Bahnen lenkt. Doch ich kann, solange Derek Chollet, der Berater des US-Außenministers, die Westbalkan-Politik mitgestaltet, leider nur halboptimistisch sein.

EU folgt den USA blind

Nach den jüngsten Gewaltausbrüchen im Norden Kosovos, bei denen KFOR-Soldaten von militanten serbischen Demonstranten verletzt worden waren, haben die USA - völlig unverständlich - einseitig Sanktionen gegenüber Kosovo angekündigt. Auch hier reagieren die USA - ebenso wie die EU - kaum auf die provokative serbische Politik, ganz im Gegenteil. Dass Vucic von Belgrad aus verhindert, dass sich Kosovo-Serben in den Staat Kosovo integrieren können, nehmen die EU und die USA einfach so hin. Man entzieht dem kosovarischen Premier Albin Kurti sogar die Unterstützung, weil er sich offensichtlich nicht in die US-Pläne einbinden lässt.

Ausschreitungen im Norden Kosovos: Serbische Demonstranten greifen Soldaten der NATO Kosovo Force (KFOR) an, Aufnahme vom 29.05.2023Bild: Laura Hasani/REUTERS

Warum folgen die EU und Deutschland hier fast blind den USA? Dass die EU nicht fähig ist, selbstkritisch zu sein und den gleichen Fehler wie vor 30 Jahren mit dem Kriegsverbrecher Slobodan Milosevic macht, ist ein Armutszeugnis.

Ein Urteil, das alles ändert

Am 31. Mai 2023 hat das Haager Tribunal sein letztes Urteil in einem 20 Jahre lang andauernden Prozess über zwei führende Männer des serbischen Staatssicherheitsdienstes in den Kriegen der 1990er Jahre in Bosnien und Kroatien gefällt. Jeder der beiden bekam 15 Jahre Gefängnis, unter anderem für die Bildung einer kriminellen Vereinigung und die Vertreibung von Nicht-Serben in Bosnien und Herzegowina sowie in Kroatien.

Franko "Frenki" Simatovic, ein ehemaliger Offizier des serbischen Staatssicherheitsdienstes, vor dem Internationalen Strafgerichtshof für die Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien (IRMCT) in Den Haag am 31.05.2023Bild: Piroschka van de Wouw/REUTERS

Der Hauptankläger Serge Brammertz sagte deutlich: "Dieses Urteil ändert alles." In der Tat: Dieses Urteil sollte einen großen Einfluss auf die Bewertung des damaligen Krieges haben. Es ist ein Beweis, dass Serbien aktiv am Krieg gegen Bosnien und Herzegowina teilgenommen hat. Damit kann dieser Krieg nie wieder ein "Bürgerkrieg" genannt werden. Jetzt ist das endlich auch offiziell, was wir alle eigentlich schon immer gewusst haben: Serbien war in den damaligen Krieg aktiv involviert.

Nun stellt sich aber die Frage, ob dieses Urteil in der EU und den USA in Bezug auf die heutige Westbalkan-Politik etwas ändern wird. Werden alle auch weiterhin Aleksandar Vucic und Serbien als Hauptakteure auf dem Westbalkan ansehen und hofieren? Ist es nicht endlich an der Zeit, sich zu einer Umkehr zu entschließen und einer anderen Politik auf dem Westbalkan den Vorrang zu geben? Einer Politik, in der es Konsequenzen für die Schuldigen und Täter gibt und die Opfer endlich gehört werden.

Christian Schwarz-SchillingBild: Oliver Rüther

Prof. Dr. Christian Schwarz-Schilling war 2006/07 Hoher Repräsentant und EU-Sonderbeauftragter in Bosnien und Herzegowina. Von 1982 bis 1992 hatte der CDU-Politiker das Amt des Bundesministers für Post und Telekommunikation inne. Er trat aus Protest gegen die Haltung der Bundesregierung im Bosnien-Krieg zurück.

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