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Gesellschaft

Berlin: Wenn der Tourist zum Feind wird

Gero Schließ
22. Oktober 2017

Der Berlin-Tourismus boomt. Doch nicht alle finden das gut. Zu viel Party, zu viel Dreck, stöhnen die Berliner. Noch ruft keiner nach einer Obergrenze, aber DW-Kolumnist Gero Schließ empfiehlt schnelles Handeln.

Deutschland Tourismus Sommertag in Berlin
Bild: picture-alliance/dpa/P. Zinken

Nanu! Die Koalitions-Fraktionen von Rot-Rot-Grün im Berliner Abgeordnetenhaus wollen die Idee des Runden Tischs wiederbeleben. Sowas gab es schon Mal in Berlin, in höchst dramatischen Zeiten: Bei der friedlichen Revolution verhandelten 1989 SED-Regime und Vertreter der Opposition an einem Runden Tisch. Damals ging es um das Ende der DDR.

Auf das Wettsaufen folgt oft das Wettkotzen: Nicht alle Touristen sind bei den Berlinern beliebtBild: picture-alliance/dpa/J. Carstensen

Jetzt soll es einen Runden Tisch zum Berliner Tourismus geben. Das heißt, diesen Tisch gibt es schon lange, aber jetzt soll er den Tourismus in Berlin endlich "stadtverträglicher und nachhaltiger" machen. Ich frage mich was das heißt. Fakt ist: Die Berliner Tourismusbranche eilt von Rekord zu Rekord. 6.2 Millionen Touristen in der ersten Jahreshälfte 2017 mit 14.7 Millionen Übernachtungen. Berlin wird förmlich überflutet. Und das ist das Problem. Da ist einfach zu vieles im Fluss: Etwa in den Zapfhähnen der vielen Kneipen und Clubs, die von den durstigen Touristenkehlen so stark nachgefragt werden, dass sie kaum nachkommen.

Wildpinkeln in Berlin

Ungehemmt fließt es danach aus den meist männlichen Harnröhren: Nicht ordnungsgemäß in die dafür eigens errichteten Toiletten, sondern auf überstrapaziertes Grünzeug oder gleich in die vielen Berliner Gewässer und Kanäle - allerdings ohne den Umweg über die städtische Kläranlage. Der Berliner benutzt dafür das schöne Wort "Wildpinkeln". Es stimmt schon: Manche Touristen nehmen den offiziellen Berliner Marketingslogan "Stadt der Freiheit" allzu wörtlich – und nehmen sich dabei zu viel raus. Leidtragende sind vor allem Szenebezirke wie Friedrichshain-Kreuzberg oder Neukölln. Dort fühlen sich manche Berliner nur noch als Gast in ihrer eigenen Stadt. Und allein gelassen. Wenn der nächtliche Lärm nervt, hilft auch das zuständige Ordnungsamt nicht. Denn es geht selber früh zu Bett. Um 22.00, spätestens 24.00 Uhr macht das Amt die Schotten dicht.

Fun im Regierungsviertel: Mit Alkohol macht's vielen mehr SpaßBild: picture-alliance/dpa

Aber liebe Berliner, Hand auf Herz. Seid mal nicht so wehleidig! Erstens macht ihr selbst auch Party bis zum Abwinken. Und dann habt ihr genau das bekommen, was ihr bestellt habt. Wer sich als durchgängig geöffnete 365/24 Partymeile vermarktet, darf nicht klagen, wenn genau das frei Haus geliefert wird: Krach und Saufen rund um die Uhr. Natürlich reisen auch viele Bildungstouristen an - wegen der Berliner Philharmoniker oder der Museumsinsel. Doch die Party-Leute - nach Einschätzung der städtischen Tourismusexperten sogar nur 15 Prozent aller Touristen – sind eben in jeder Hinsicht dynamischer: bei Lärm, Lust und Laune.

Und überhaupt: Wollte Berlin nicht immer sexy sein? Und hat sich als lasziv und hedonistisch präsentiert? Zumindest wird es so von vielen verstanden. Und die kommen dann. Manche verschwinden für ein Wochenende im dunklen Schlund von Berlins angesagtem Technoclub, dem Berghain. Und sind dort schallschluckend - und sehr bürgerschonend - untergebracht. Andere tun den geplagten Berlinern nicht diesen Gefallen. Sie bleiben nicht "unter Tage", sondern erdreisten sie sich, Berlin von oben abzutanzen.

Schnellkurs Tourismus bei der Einreise

Marzahn, bisher noch ein Stadtteil ohne TouristenattraktionBild: DW/N.Jolkver

Was also tun? Ich bin sicher, dass sich der runde Tisch für Tourismus über ungebetene Ratschläge freut. Besonders Schlaue fordern ja zur Erhaltung der Stadtsauberkeit mehr Toiletten und städtische Sitzgelegenheiten (bestimmt meinen sie damit Sitz-Klos). Ich meine, man müsste bereits bei der Einreise ansetzen. Nach der Ankunft am Flughafen sofort weiterleiten zum Schnellkurs für "stadtverträglichen Tourismus". Dort kann neben der Unterweisung in typisch Berlinerische Verhaltensregeln (Vordrängeln beim Bieranstehen) natürlich auch eine Stadt-Karte mit den öffentlichen WCs ausgegeben werden.

Mit der Touristen-Unsitte, massenweise zu Sehenswürdigkeiten wie dem Brandenburger Tor oder Checkpoint Charly zu strömen, will man auch aufräumen. Verstärkte Marketingmaßnahmen sollen künftig die Schönheit weit entlegener Bezirke wie Köpenick oder Marzahn anpreisen. Ich finde, es geht noch besser: Entweder das Brandenburger Tor nach Köpenick umsiedeln oder es einfach aus den Reiseführern streichen.

Gegen einer "Obergrenze" beim Berlin-Tourismus: Unser Kolumnist Gero Schließ

Die Zeit drängt. In Barcelona oder Mallorca stoppen Aktivisten bereits Touristenbusse oder blockieren Tourismuszentralen. Der Berliner scheut da noch den Aufwand und wartet geduldig auf das Tourismuskonzept seines Senates. Doch was ist, wenn inzwischen der Ruf nach einer Obergrenze laut wird und sich durchsetzt? Diesmal nicht für Flüchtlinge, sondern für Touristen? Der Wahnsinn gallopiert. Und macht womöglich auch um den Runden Tisch keinen Bogen.

 

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